Im Februar 2023 haben wir uns bereits mit der unterschätzten Rolle der Ratsarbeitsgruppen und ihrer Mitglieder, den nationalen Diplomaten auf EU-Ebene (kurz: Attachés), beschäftigt. Wir haben die Notwendigkeit herausgearbeitet, sich abseits der Minister und des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) zunächst ein Bild davon zu machen, welche Themen und Herausforderungen bereits in den Arbeitsgruppen vorab des Trilogs verhandelt und „vorgekocht“ werden – denn das sind letztlich rund 70 Prozent aller Entscheidungen im Gefüge des Ministerrats.

Aufbauend auf die strukturellen Handlungs- und Entscheidungsstränge möchten wir nun aufzeigen, warum es wichtig ist, auch die soziale Dynamik unter den Mitgliedsstaaten in den Ratsarbeitsgruppen zu berücksichtigen. Empirische Beobachtungen[1] verdeutlichen, dass die oft verwendete Rhetorik der „ständigen Verräter“ in Brüssel durchaus eine gewisse Grundlage hat.

Die Europäische Union ist nicht nur der größte regionale Block in wirtschaftlicher Hinsicht. Sie gehört zu den am stärksten institutionalisierten Arenen zwischenstaatlicher Kooperation und weist somit eine der dichtesten Formen diplomatischer Interaktionen auf. Die Entscheidungsfindung der Ratsarbeitsgruppen ist ein Beispiel dafür und wird oft als ein Prozess des harten Verhandelns unter den Mitgliedstaaten beschrieben. Doch hinter den Kulissen mildert – und manchmal verhindert – ein Sozialisierungsprozess zwischen den Attachés dieses „harte Feilschen“ um nationale Positionen.

Die nach Brüssel entsandten Attachés agieren in einem Spannungsfeld zwischen zwei sozialen Kontexten: dem nationalen und dem europäischen. Sie handeln nicht ausschließlich im Rahmen des Ministerrats, sondern innerhalb eines normativen Kontextes, der sich aus formell institutionalisierten und informellen Kanälen ergibt:

  • Regelmäßige Arbeitsgruppensitzungen im Rat ein- oder zweimal pro Woche (9-18 Uhr);
  • Informelle Treffen mit der Ratspräsidentschaft, bilaterale Treffen zur Abstimmung und Überzeugung von Positionen oder innerhalb einer Gruppe von gleichgesinnten (‚like-minded‘) Mitgliedstaaten[2];
  • Netze der formellen und informellen Kommunikation; diese reichen von Kontakt per Telefon und den für die Arbeitsgruppen eingerichteten Mailinglisten bis zu COREU-Nachrichten[3] oder Whats-App-Gruppenchats;
  • Gemeinsame Ausflüge und Treffen bei privaten Anlässen, denn die Atmosphäre in der Arbeitsgruppe ist oft sehr familiär und freundschaftlich: Gruppen(„Familien“)fotos werden am Ende der Ratspräsidentschaften gemacht, ehemalige Arbeitsgruppenmitglieder bleiben in Kontakt, besuchen sich gegenseitig, informieren sich über persönliche Angelegenheiten und Sorgen.

Durch den routinemäßigen, gegenseitigen Austausch bilden die Attachés eine „soziale Einheit“ und entwickeln ein starkes Gemeinschaftsgefühl.

Manche der Attachés gingen in den Gesprächen so weit, die eigentlich rein diplomatischen Beziehungen – d.h. die Position ihres Landes bestmöglich zu vermitteln und zu verteidigen – mit der Dynamik einer Schulklasse zu vergleichen: „Du hast deine Klassenkameraden und ihr seid alle zusammen. Dann gibt es einige, die mehr miteinander befreundet sind, und andere, die es weniger sind. Und es gibt kleine Gruppen, die zusammen auf Partys gehen. Das ist für uns etwas ganz Natürliches. Unsere Kinder gehen in dieselben Kindergärten und Schulen. Wir sind Freunde, wir kennen die Familien der anderen und wir besuchen uns oft gegenseitig“.

Dadurch lassen sich sie die Ansichten anderer Mitgliedstaaten einfacher berücksichtigen, anstatt ausschließlich den Weisungen aus der Hauptstadt zu folgen. Niemand will für ein Scheitern der Verhandlungen verantwortlich gemacht werden, so die Attachés: „Denn die, die gegen etwas stimmen, werden von allen dafür verantwortlich gemacht, dass keine Einigung gefunden werden konnte“.

Die Binnensolidarität innerhalb der Gruppe wird von den Attachés der Arbeitsgruppe ‚Öffentliche Gesundheit‘ als Schlüssel zur Beschleunigung von Einigungen in Gesetzgebungsverfahren betrachtet. Es ist jedoch zu betonen, dass diese Solidarität hauptsächlich unter gleichgesinnten Mitgliedstaaten entsteht. Die engen Beziehungen zwischen den größeren Mitgliedstaaten, Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, wurden durchweg hervorgehoben.

Diplomaten werden mit der Zeit „einheimisch“, indem sie sich mit ihrem Gastland identifizieren, was zu Spannungen mit der Hauptstadt führen kann und einer der Gründe für das Rotationssystem ist. Die Attachés in den Arbeitsgruppen unterscheiden sich jedoch von Diplomaten in nationalen Botschaften dadurch, dass sie nicht von den Außenministerien, sondern von den nationalen Fachministerien abgeordnet werden, sodass einige Attachés (genannte Beispiele: Österreich und Polen) bis zu 15 Jahre in Brüssel verbringen.

Diese Sozialisierung ist aus zumindest zwei Logiken allerdings auch strategisch zu begründen. Das vorherrschende System der Mehrheitsabstimmung (Qualified Majority Voting, QMV[4]) wird in den Hauptstädten oft nicht verstanden. Die Ministerien zuhause neigen dazu, starre Weisungen zu formulieren, ohne die QMV-Logik zu berücksichtigen, die es den Attachés erleichtern, Weisungen ihrer Hauptstädte abzumildern.

Als Beispiel kann die Ablehnung der Einbeziehung von Geschlechterperspektiven in ein Gesetzestext dienen: Wenn eine Gruppe (‚Block‘) von Mitgliedstaaten, die sich für die Berücksichtigung der Geschlechterfrage stark macht und die Mehrheit hat, gewinnt sie nicht nur die Abstimmung, sondern vermeidet in nächsten Verhandlungen womöglich, auf den „Abweichler“ zuzugehen; d.h. ihn oder sie einzubinden. Wie einer der Attachés bestätigte: „Auch wenn wir [geschlechtsspezifische Erwägungen] nicht mögen, bedeutet das Stimmen dagegen erstens, dass wir verloren haben, und zweitens, dass wir kein Partner in den zukünftigen Diskussionen sein werden“.

Die Motivation, dem sozialen Druck zu folgen, ergibt sich aber auch aus dem Kalkül, die individuelle Anerkennung innerhalb der Gruppe langfristig zu erhalten oder zu verbessern. So betonte einer der Diplomaten: „Wir werden dafür bezahlt, dass wir hier Freunde finden“. Ein Attaché wird es schwer haben, Verbündete in Diskussionen zu finden, wenn es an guten Beziehungen zu Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten mangelt.

Die enge Zusammenarbeit, das Gemeinschaftsgefühl und die Binnensolidarität unter den Attachés tragen dazu bei, Einigungen in bestimmten Politikbereichen zu beschleunigen, oftmals zum Nachteil der eigenen Weisung. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass diese Einschätzungen hauptsächlich aus Interviews mit der Ratsarbeitsgruppe für öffentliche Gesundheit stammen und so nicht verallgemeinerbar sind.

Die Attachés selbst sagen, dass die ‚öffentliche Gesundheit‘ ein Themenbereich ist, der stark von gemeinsamen, eher altruistischen Werten beeinflusst wird, wie z. B. der Bekämpfung von Krebs oder Schäden durch Drogenkonsum. Das Ziel der Gesundheitsattachés ist es, „ein besseres Europa für die Gesundheit zu schaffen“ und „die Gesundheit der europäischen Bürger zu schützen“. In Politikbereichen, in denen auch der finanzielle Gewinn im Vordergrund steht, wie z. B. beim geistigen Eigentum, ist das „Wir-Gefühl“ und damit der Einfluss auf die Zusammenarbeit und die Abschwächung der nationalen Positionen vermutlich weniger stark ausgeprägt.

Darüber hinaus liegt der Themenbereich Gesundheit in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Ein wesentlicher Teil der alltäglichen Praxis der Gesundheitsattachés besteht also darin, die Kommission in Schach zu halten; beispielsweise während der Pandemie, als die Kommission die Dringlichkeit nutzen konnte, um ihren Einfluss in einem Politikfeld auszuweiten, für den sie rechtlich nicht zuständig ist. Die Verhandlungen sind in diesem Politikfeld also eher von einem „Wir gegen die Kommission“ als von Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten geprägt.

Zusammenfassung und Empfehlung

Der vorherige Blick auf die Struktur und die Entscheidungsebenen im Ministerrat hat gezeigt: Es ist ratsam, sich ein Bild davon zu machen, welche Themen und Herausforderungen bereits auf Arbeitsgruppenebene erarbeitet werden, um dem eigenen Standpunkt Gehör zu verschaffen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Attachés der EU-Mitgliedstaaten aufgrund ihrer täglichen Interaktionen von einer politischen Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Lösungsfindung angetrieben werden, was sich auch auf ihre Rolle als Vertreter und Berater sowie als nationale Verhandlungsführer bei Gesetzesvorhaben auswirkt. Ein Blick hinter die Kulissen und die Berücksichtigung der informellen Beziehungen und Abstimmungen innerhalb der Arbeitsgruppe des Rates kann Bemühungen, sich innerhalb der ministeriellen Struktur zu positionieren, zusätzlich begünstigen – zum Beispiel, indem man sich mit der Flexibilität und Historie der Attachés vertraut macht, von nationalen Weisungen abzuweichen, oder überlegt, inwieweit das eigene Anliegen nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Partnerländer in diesem Bereich hilfreich sein kann. Gute Beziehungen und reflexive Abstimmung können Katalysatoren dafür sein, dass ein Attaché eher geneigt ist, das Anliegen innerhalb der Arbeitsgruppe voranzutreiben, insbesondere entlang gleichgesinnter Mitgliedsstaaten.

[1] Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf Experteninterviews, die in Brüssel mit Mitgliedern der EU-Ratsarbeitsgruppe für ‚Öffentliche Gesundheit‘ geführt wurden.

[2] So veranstalten beispielsweise die nordischen und baltischen Gesundheitsminister regelmäßig informelle Treffen mit ihren Botschaftern und Attachés, um erste Abstimmungen vorzunehmen.

[3] COREU steht für „COuncil REgister of the European Union“ und dient als offizieller Kanal für den Austausch von Informationen und Nachrichten zwischen den Mitgliedstaaten der EU und den verschiedenen EU-Institutionen, insbesondere wenn es um Themen hoher Sensibilität und Sicherheit geht.

[4] Um eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen, müssen 55 Prozent der EU-Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, dafür stimmen.

  • Beitrag von Sabrina Luh Deprecated: Function strftime() is deprecated in /mnt/web320/e2/23/59262923/htdocs/WordPress_02/wp-content/plugins/qtranslate-xt-3.12.1/qtranslate_date_time.php on line 145 Deprecated: Function strftime() is deprecated in /mnt/web320/e2/23/59262923/htdocs/WordPress_02/wp-content/plugins/qtranslate-xt-3.12.1/qtranslate_date_time.php on line 201 20.6.2023
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