Die hier besprochenen Ergebnisse basieren auf Experteninterviews, die in Brüssel mit Mitgliedern der EU-Arbeitsgruppen für Gesundheit geführt wurden und im Rahmen eines wissenschaftlichen Artikels hier veröffentlich wurden.

Die politischen Verfahren innerhalb der Europäischen Union sind in erster Linie eine Frage der Zuständigkeit. Oft assoziiert man die Europäische Union mit den in Brüssel ansässigen Institutionen. Doch ist sie viel mehr ein Überbegriff für die Europäische Kommission. EU-Mitgliedstaaten bleiben letztlich souveräne Staaten, die diese Souveränität in einigen Politikbereichen – manchmal sogar nur in Teilen davon – zusammenlegen, um durch ein gemeinsames Vorgehen Einfluss zu üben.

Gesundheitspolitik ist ein gutes Beispiel für solch ein Politikfeld. Die Kommission hat hier nur sog. „Supportive Competence“, kann die Maßnahmen der EU-Länder also lediglich unterstützen, koordinieren oder ergänzen. Daher ist es viel mehr der Rat als (Koordinations-)Plattform der Mitgliedstaaten, innerhalb dessen Rahmen die EU-Gesundheitspolitik primär stattfindet[1].

Die Wirkrichtung des Ministerrats: Top-down vs. Bottom-up

Der Rat tagt in zehn unterschiedlichen Zusammensetzungen, in denen die Fachminister der Mitgliedstaaten zusammenkommen, um Rechtsvorschriften zu ändern oder zu erlassen. Darüber hinaus handelt der Rat Dokumente aus, die keine Rechtswirkung haben, wie etwa Schlussfolgerungen, Entschließungen und Erklärungen.

Die Ministertreffen werden vom ‚Comité des Représentants Permanents‘ (kurz: COREPER), oder deutsch: dem ‚Ausschuss der Ständigen Vertreter‘ (kurz: AStV) vorbereitet. Dieser unterteilt sich in AStV I und AStV II, je nach thematischem Schwerpunkt des Dossiers. Die Nummerierung AStV I und AStV II hat wider Erwarten keine hierarchische Bedeutung. Im Gegenteil, der AStV II bereitet die wichtigeren, politischen Dossiers vor, während der AStV I die Arbeiten der ergänzenden, eher technischen Ratsformationen vorbereitet. Jeder EU-Mitgliedstaat ist im AStV durch einen Ständigen Vertreter (AStV II) und einen Stellvertretenden Ständigen Vertreter (AStV I) vertreten, die die Ständigen Vertretungen (StäVs) der Mitgliedstaaten bei der EU in Brüssel leiten und den Status von Botschaftern innehaben.

Doch werden in der Realität nur ca. 15-20 Prozent der Tagesordnungspunkte dem AStV überlassen. Den Ministern bleiben nur etwa 10-15 Prozent selbst. Es sind die Arbeitsgruppen des Rats als dritte Instanz dieser Verhandlungstreppe, die rund 70 Prozent der Entscheidungen im EU-Jargon „vorkochen“. In der Analyse und Bewertung von EU-Politik und zwischenstaatlicher Impulse im Verhandlungsprozess ist es daher unerlässlich, sich zunächst nicht auf den Flaschenhals zu konzentrieren, sondern auf die Tätigkeiten und das Zusammenwirken der für ein Dossier zuständigen Arbeitsgruppen[2].

 

 

Die institutionelle Architektur des Ministerrats. Quelle: Autor.

In den Rat-Arbeitsgruppen kommen sog. Attachés, also die Diplomaten der Ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten bei der EU zusammen, die in Begleitung mit Experten aus ihren jeweiligen Hauptstädten an den Sitzungen teilnehmen. Die Attachés sind jedoch in der Regel keine Berufsdiplomaten. Während die Ständigen Vertreter und ihre Stellvertreter von den Außenministerien ihrer Länder entsandt werden, werden die Attachés der Arbeitsgruppen von den zuständigen nationalen Ministerien abgeordnet.

Doch lassen sich die StäVs deutlich von anderen diplomatischen Vertretungen durch die Tatsache abgrenzen, dass die Zahl der vertretenen Politikbereiche die einer normalen Botschaft bei weitem übersteigt. Ein EU-Gesundheitsattaché vertritt grundsätzlich alle Themenbereiche seines Gesundheitsministeriums, die sich im Durchschnitt auf 60 – 75 Abteilungen belaufen, von denen etwa die Hälfte EU-relevante Ergebnisse produziert.

Große, ‚alte‘ Mitgliedstaaten haben mindestens zwei Attachés pro Ratskonfiguration, während kleine, neuere Mitgliedstaaten in der Regel unterbesetzt sind. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Verhandlungsposition, vor allem weil sich EU-Diplomatie generell von der klassischen Diplomatie unterscheidet: Der Rat ist ein Gesetzgebungsorgan; eine gründliche Kenntnis des EU- und des nationalen Rechtsrahmens ist daher in höchstem Maße erforderlich und liegt dem intensiven Erwerb von Fachwissen zugrunde. Fällt dies einem Einzelnen in den Schoß, bleibt wenig Zeit für informelle Verhandlungsrunden und Überzeugungsarbeit für den eigenen Standpunkt.

Der Arbeitsalltag eines EU-Attachés in fünf Rollen

Informationssammler und -transmitter

Die Attachés sammeln fachspezifische Informationen in und über Brüssel, insbesondere über die Position anderer Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen zu Gesetzesvorschlägen. Die gewonnenen Informationen werden in Form von Berichten oder schriftlichen Kommentaren in einer Einbahnstraße über den Attaché in die Hauptstadt geleitet, wo sie die zuständigen Beamten, meist in den Abteilungen für internationale/EU-Angelegenheiten des jeweiligen Ministeriums, erreichen. Das Sammeln und Bereitstellen von Informationen geht mit einer Filterfunktion einher und priorisiert, welche Themen im Brüsseler Kontext für das eigene Ministerium relevant sind.

Attachés der neueren Mitgliedsstaaten sind zusätzlich beauftragt, die Kommunikation zwischen Brüssel und ihrer Hauptstadt in erster Linie zu institutionalisieren, da es immer noch viele Ministerien gibt, die nur am Rande an der EU interessiert sind. In solchen Fällen kann der Einfluss eines Brüsseler Attachés groß sein, da er oder sie die Möglichkeit hat, die inhaltliche Ausrichtung des neuen Engagements zu beeinflussen.

Netzwerker und Kontaktvermittler

Während die Ministerien auch über eigene, direkte Verbindungen zu anderen Mitgliedstaaten und zur Kommission verfügen, was insbesondere für die politische Ebene gilt, läuft die Kommunikation zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission in der Regel immer über die StäVs. Ein großer Teil der täglichen Arbeit der Attachés besteht also darin, ihren Kollegen in den nationalen Ministerien den Kontakt zu den EU-Institutionen oder ihren Pendants in anderen Mitgliedstaaten zu vermitteln. Gerade in Krisensituationen ist ein schneller Kontakt zu einer Vielzahl von Staaten notwendig – dafür sind die Attachés ideal platziert. Nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie baten die Beamten in den Hauptstädten rasch um den Kontakt zu ihren Amtskollegen und fragten ihre Attachés in Brüssel beispielsweise: „An wen kann ich mich im französischen Ministerium, im niederländischen, im österreichischen oder im italienischen wenden?“

Frühwarnsystem

Die Nähe sowohl zu den Mitgliedstaaten als auch zu den EU-Institutionen macht Attachés zu nützlichen Antennen für ihre Hauptstädte. Insbesondere der enge Kontakt zur Kommission –  die als „Hüterin der Verträge“ die Einhaltung der EU-Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten überwacht – sorgt dafür, dass mögliche Reibungen  zwischen der Kommission und einem Mitgliedstaat den Attachés und damit der Hauptstadt schnell zur Kenntnis gebracht werden: „Wenn es Kritik gibt, hört man sie in Brüssel am schnellsten“. Das System kommt auch bei Gesetzesvorschlägen zum Einsatz, die von der Kommission initiiert werden. So können die Attachés einen den nationalen Interessen zuwiderlaufenden Vorschlag im Vorfeld melden um der Veröffentlichung durch die Kommission entgegenzuwirken.

Repräsentant und Berater

Die Attachés leiten nicht nur Informationen, Kontakte und Warnungen in die Hauptstadt. Sie sind nationale Delegierte, die mit dem Auftrag nach Brüssel geschickt werden, die Position ihres Landes bestmöglich zu vermitteln und zu verteidigen. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede in den Gestaltungsmöglichkeiten: Während manche Attachés ihre Weisungen gar selbst verfassen, würden andere, wie von ihren Kollegen im Interview bestätigt, ohne die Weisung der Hauptstadt „nicht einmal auf die Toilette gehen“. Vor allem in den osteuropäischen Ländern gibt es eine lange Tradition von roten Linien; Gestaltungsfreiheit Fehlanzeige.

Verhandlungsführer

Attachés erörtern in Verbindung mit nationalen Sachverständigen „Artikel für Artikel, Kapitel für Kapitel“, um herauszufinden, wo auseinandergehende Interessen ausgehandelt werden müssen. Der Ausgleich divergierender Interessen schlägt sich oft in einer konsequenten Blockbildung nieder: Zunächst findet man gleichgesinnte Länder zu einem bestimmten Thema – entweder in formellen oder informellen, multilateralen oder bilateralen Zusammenkünften, um dann in einer gemeinsamen Front auf die nicht gleichgesinnten Länder zuzugehen. Die Mehrheit gewinnt.

Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist das Europäische Parlament Mitgesetzgeber desselben Dossiers wie der Rat: Die Attachés nehmen also häufig an Workshops und/oder Konferenzen teil, die von Mitgliedern des Europäischen Parlaments zu Fragen des Dossiers organisiert werden, was für beide Seiten eine strategische Gelegenheit darstellt. Offen gesagt: „Man geht dorthin und sagt fünf Minuten lang etwas darüber, wie wichtig das Thema ist, was uns wiederum ermöglicht, später im Trilog um Gegenseitigkeit zu bitten, wenn wir beispielsweise Hilfe brauchen, die Kollegen von der Bedeutung eines bestimmten Artikels zu überzeugen“.

Empfehlung und Ausblick

Während sich die Stakeholder bei Gesetzgebungsprozessen, an denen der Ministerrat beteiligt ist, entweder direkt auf die ministerielle Ebene doch zumindest den AStV als Entscheidungsträger konzentrieren, hat dieser erster Einblick in die Struktur und die tägliche Arbeit der Arbeitsgruppen gezeigt: Es ist es ratsam(er), sich ein Bild davon zu machen, welche Themen und Herausforderungen bereits auf der Ebene der Arbeitsgruppen vorgekocht werden, um seinen Standpunkt hörbar zu machen. Das gilt darüber hinaus insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Attachés der EU-27 ausgehend von ihren täglichen Interaktion von der politischen Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Lösungsfindung angetrieben werden, die sich auf ihre Rolle als Repräsentanten und Berater sowie als nationale Verhandlungsführer bei Gesetzesentwürfen auswirkt. Ein folgender Beitrag wird sich diesen Sozialisierungsprozessen innerhalb der Ratarbeitsgruppen und darüber hinaus widmen und so unter Anderem beantworten, warum etwa die Ständigen Vertreter in Brüssel insbesondere in Berlin oft nur „Ständige Verräter“ genannt werden.

[1] Eine Übersicht, in welchen Politikbereichen die Kommission Rechtsvorschriften „ausschließlich“, „geteilt“ oder „unterstützend“ erlassen kann, findet sich hier.

[2] Eine Übersicht aller Arbeitsgruppen des Rates findet sich hier.

  • Beitrag von Sabrina Luh Deprecated: Function strftime() is deprecated in /mnt/web320/e2/23/59262923/htdocs/WordPress_02/wp-content/plugins/qtranslate-xt-3.12.1/qtranslate_date_time.php on line 145 Deprecated: Function strftime() is deprecated in /mnt/web320/e2/23/59262923/htdocs/WordPress_02/wp-content/plugins/qtranslate-xt-3.12.1/qtranslate_date_time.php on line 201 24.2.2023
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