Was das Ende von Twitter für die Öffentlichkeitsarbeit bedeuten würde – ein Szenario

Die Übernahme durch Elon Musk erschüttert Twitter nachhaltig und bewegt die Firma in eine gefährliche Richtung – doch was würde das Ende des sozialen Netzwerks für unsere Debatten bedeuten und wie müssen sich Politik und Wirtschaft auf die neue Situation einstellen?


Als die Übernahme von Twitter durch Elon Musk nach langem Hin und Her doch zustande gekommen war, ahnten viele Mitarbeitende und Nutzer nichts Gutes. Spätestens als der Milliardär mit einem Waschbecken bewaffnet ins Hauptquartier in San Francisco einmarschierte, war aber klar, dass von nun an andere Zeiten für das einflussreiche Netzwerk anbrechen würden.

Seitdem überschlagen sich die Ereignisse. Zahlreiche Accounts rechter Hetzer, Verschwörungstheoretiker und sonstiger Radikaler werden entsperrt, das Level an rassistischen und hetzerischen Tweets steigt und Musk-kritische Accounts, auch von Journalisten, werden gesperrt. Die Konsequenzen: Große Werbekunden streichen ihre Anzeigen, Institutionen prüfen ihr Engagement in dem Netzwerk und Nutzer ziehen sich zurück, wenn sie nicht gleich ihre Accounts schließen.

Musk übte sich schließlich in Schadensbegrenzung, als er die Nutzer seines Netzwerks über seinen Rücktritt abstimmen ließ und diesen dann auch erklärte. Dass damit sein Einfluss auf Twitter sinkt, glauben bisher aber die Wenigsten. Setzen sich die Entwicklungen weiter fort, bestehen ernsthafte Zweifel, ob Twitter dies überlebt. Denkbar wären dann zwei Szenarien:

  • Twitter geht in die Insolvenz, weil weder die neuen Bezahlfeatures genug Ertrag abwerfen noch die Werbekunden wieder kommen
  • Das Netzwerk wird politisch wie gesellschaftlich so toxisch, dass ein weiteres Engagement nur für Akteure deutlich rechts der Mitte ohne Reputationsschaden möglich wäre.

Noch ist nicht absehbar, ob Twitter in einem der beiden Szenarien enden wird. Aber Organisationen mit Präsenz im politischen und medialen Raum sollten beginnen, für dieses Szenario zu planen.

Aber warum sollte es uns überhaupt interessieren, ob Twitter existiert oder nicht? Es ist nicht unter den Top 3 der sozialen Netzwerke in Deutschland und weniger als 20% der Bürger nutzen es überhaupt. Beides stimmt. Doch Twitter hebt drei Dinge im Vergleich zu den anderen sozialen Netzwerken ab:

  • Es hat sehr geringe Einstiegsbarrieren, denn es ist primär Textkommunikation und setzt damit minimale Bildungs- wie Hardware-Anforderungen voraus.
  • Es hat eine hohe Geschwindigkeit. Nachrichten (letztes Beispiel: Raketen schlagen in einer polnischen Grenzstadt ein) tauchen immer wieder zuerst auf Twitter auf und werden hier innerhalb von Minuten, wenn nicht Sekunden, kommentiert und eingeordnet. Die Debatten entwickeln sich sehr schnell, nicht immer zur Freude aller (#Shitstorm).
  • Twitter hat eine starke Konzentration der Politik- und Medien-„Bubble“. Nach einer Studie von 2015, war fast jeder 4. User Journalist – das mag nicht mehr ganz so extrem sein, aber dennoch ist unter Journalisten Twitter das soziale Netzwerk der Wahl. 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben laut dem Portal pollytix einen Twitteraccount. Diese Konzentration führt dazu, dass Debatten auf Twitter häufig eine höhere externe Reichweite und Durchschlagskraft haben, da ihre Multiplikatoren (Politiker und Journalisten) sie stärker wahrnehmen.

Diese drei Merkmale haben dazu geführt, dass viele der gesellschaftlichen Debatten nicht nur auf Twitter geführt wurden, sondern der Impuls auch häufig über Twitter in die öffentliche Aufmerksamkeit kam (#meToo, #IchBinHanna). Nicht wenige würden behaupten, dass Twitter Karl Lauterbach zum Gesundheitsminister gemacht hat. Exemplarisch kann man es festmachen, wenn man Mediendatenbanken nach sozialen Netzwerken in Kombination mit Begriffen wie Debatte, Diskussion oder Shitstorm durchsucht. Hier ist Twitter unangefochten vorne und wird hier häufiger zitiert als die nächsten 3 Netzwerke zusammen.

Diese Relevanz hat auch dazu geführt, dass nahezu alle großen und nicht so großen deutschen Unternehmen einen oder mehrere Accounts bei Twitter haben. Es geht hier nicht um Kundenkommunikation, sondern um Sichtbarkeit bei journalistischen wie politischen Stakeholdern.

Ein Ende von Twitter bedeutet also nicht nur das Ende eines Unternehmens, sondern auch das Ende des zentralen digitalen Debattenplatzes in Deutschland und anderen Ländern.

Die Debatte wird zersplittern – zumindest auf mehrere Jahre

Aus Angst vor einem Ende von Twitter und auf der Suche nach alternativen Austauschformaten eröffnen schon jetzt zahlreiche Politiker und gesellschaftliche Influencer ein Konto bei der Konkurrenz von Mastodon oder gründen eigene Gruppen in sog. “Dark Socials” wie Telegram oder Whatsapp. Wir sehen damit die Ansätze von einer Zersplitterung der öffentlichen Debatte, und zwar in zweierlei Hinsicht:

Zum einen ist die Wahl eines alternativen sozialen Netzwerks durchaus auch eine der politischen Färbung. Wirtschaftsaffine Akteure wechseln hauptsächlich zu LinkedIn, andere bevorzugen dezentrale Netzwerke wie Mastodon. Wer keine Angst vor der Kamera hat, geht zu Instagram und TikTok. Die Debatte findet also nicht mehr zwischen verschiedenen Perspektiven statt, sondern viel stärker in der Binnenbetrachtung einzelner Strömungen.

Zum anderen gibt es eine Tendenz zu Plattformen zu wechseln, die eine Debatte von Vorneherein ausschließen. Newsletter, Telegram oder WhatsApp ermöglich vor allem eine Einwegkommunikation, Kommentare und Gegenmeinungen sind technisch häufig nicht vorgesehen – vielleicht aber auch unerwünscht. Der eingespielte Ablauf von Ereignis, Twitterdebatte und anschließender medialer Berichterstattung würde sich dann in der jetzigen Form nicht mehr realisieren lassen.

Diese Zersplitterung wird zu einer längeren Phase der Unsicherheit führen: Für die Absender wird sich erst wieder zeigen müssen, auf welchem Kanal welche Zielgruppe zu erreichen sein wird und wie der zielgruppengerechte Content aussehen muss. Auf Empfängerseite stellt sich ein ähnliches Problem. Zudem wird es für Akteure deutlich aufwendiger, die Position von Stakeholdern nachzuvollziehen, wenn dazu diverse Plattformen beobachtet werden müssen und, wenn man mitdebattieren möchte, auch eine entsprechende eigene Kompetenz benötigt wird.

Informationsbeschaffung wird aufwendiger werden

Twitter war immer ein guter Seismograf, gerade weil hier die Ballung an relevanten Stakeholdern so hoch war. Zersplittert sich die Debatte in andere Netzwerke und Plattformen, so ist der Aufwand, sich selbst gegenüber Stakeholdern zu positionieren, mit diesen in Kontakt zu treten oder kritische Debatten frühzeitig zu erkennen, ungleich höher.

Mehrere Plattformen zu beobachten ist natürlich nichts Neues. Es ist jedoch aufwendiger und kann in einigen Fällen (z.B. LinkedIn) nur manuell zuverlässig gewährleistet werden. Vor allem müssen für einen 360° Blick die gesammelten Informationen zusammengeführt werden. Während es um Twitter ein breites Tool-Ökosystem gibt, dass Monitoring auch für kleine Geldbeutel möglich machte, sind Tools, die mehrere Plattformen abdecken, meist deutlich teurer und auch komplexer. Die Zersplitterung erhöht den Aufwand für das Monitoring also deutlich, nicht nur im monetären Sinne, sondern auch was technische Kompetenzen betrifft.

Es ist aber nicht der einzige Aufwand, der sich erhöht. Twitter bildete auch in Deutschland eine Art „Reputationsschufa“. Anders als in den USA waren Follower-Zahlen zwar nie eine Währung für sich. Im Kontext gesehen, waren sie jedoch durchaus ein Faktor, um Reputation und Vertrauen in einen Akteur zu bewerten. Gerade wenn man sich in unbekannten Themengebieten bewegte, waren sie ein einfacher Weg, um einflussreiche Akteure zu identifizieren. Interessanterweise war es auch immer ein guter Indikator der Ambitionen von Lokal- und Regionalpolitikern, ob diese einen aktiven Twitter-Account hatten.

Viele Journalisten nutzten Twitter auch intensiv, um Quellen zu finden. Es ist überraschend, wie viele Zitate in Artikeln heutzutage nicht aus Anfragen oder Interviews stammen, sondern direkt von Twitter „gezogen“ werden. Deswegen gibt nicht wenige Stimmen, die ein Ende Twitters aus Sicht der journalistischen Qualität durchaus begrüßen würden. Durch den Fokus auf die Plattform, habe sich der Blick verengt, denn so gut die „Berliner Blase“ repräsentiert ist, viele Bevölkerungsgruppen sind es eben nicht. Für Journalisten würde also auch die eigene Informationsbeschaffung schwieriger werden, existierte Twitter nicht mehr.

Das ist allerdings nicht nur für diese ein Thema – den das Platzieren von Zitaten wird ohne Twitter ebenfalls schwieriger. Gerade Nischenakteure konnten über Twitter durch kluge Kommentare oder starke Positionierungen journalistisches Gehör finden, dass ihnen ohne diese Plattform vermutlich nicht zuteilgeworden wäre. Endet Twitter könnte das thematische „Platzhirsche“ begünstigen, da der Aufwand alternative Akteure zu finden und in Kontakt zu treten, für Journalisten in knapp besetzten und eng getakteten Redaktionen evtl. nicht möglich ist.

Konsequenzen

Ob Twitter in seiner derzeitigen Form weiter existieren wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt weder bejaht noch verneint werden. Fakt ist aber, dass die Karten mit der neuen Eigentümerschaft neu gemischt werden und ein Ende durchaus im Bereich des Möglichen scheint. Doch wie können sich Organisationen, die bisher auf Twitter aktiv sind, darauf vorbereiten? Aus unserer Sicht sind es drei Maßnahmen, die kurzfristig helfen:

Wer gut strukturierte und aktuelle Stakeholder-Übersichten hat, sollte noch mal prüfen, ob diese auch zu Twitter alternative Netzwerke und anderen Kontaktdaten umfassen. Da es in der Praxis aber häufig der Fall ist, dass der Aufbau und Pflege dieser Übersichten nicht die höchste Priorität haben, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, diese anzulegen und noch mal grundlegend zu überholen. Wenn bekannt ist, welche Stakeholder relevant für die eigenen Themen sind, sollten diese nicht nur thematisch gemonitored werden, sondern auch in Hinblick auf mögliche Ankündigungen von Plattformwechseln. Dabei hilft eine gute technische Infrastruktur, Empfehlungen gibt es zum Beispiel in unserer Tech Landscape Politik & Kommunikation.

Wer Twitter bisher stark genutzt hat, um eigene Themen zu platzieren und mit Journalisten in Kontakt zu treten, sollte Ressourcen in die klassische Medienarbeit stecken. Der Aufbau und die Pflege persönlicher Beziehungen, um Teil der relevanten Debatten zu werden, wird in diesem Szenario eine Renaissance erleben. Gerade für Akteure, die keinen hohen Bekanntheitsgrad haben, ist es essenziell, mit den für sie thematisch relevanten Journalisten vernetzt zu sein. Allein auf persönliche Beziehungen zu setzen, wird aber nicht ausreichend sein. Fällt Twitter weg, ist ein hohes Maß an Kreativität und Mut gefragt, um neue Wege zu finden, die eigene Botschaft in der Öffentlichkeit zu platzieren.

Zuletzt: Viele Organisationen haben Zeit und Ressourcen in den Aufbau ihrer Twitter-Audience investiert. Dies sind über die Jahre hinweg häufig keine geringen Summen. Endet Twitter, muss diese Investition abgeschrieben werden. Es sollte daher rechtzeitig überlegt werden, ob es sinnvoll ist, zu versuchen, Follower zu alternativen Plattformen (andere soziale Netzwerke, Newsletter, etc.) zu mobilisieren. Diese Entscheidung sollte sich aus der eigenen Unternehmens- und der PR-Strategie ableiten und gut vorbereitet sein. Aber: Diese Überlegungen sollten jetzt getätigt werden. Da die Lage sehr dynamisch ist, kann es erforderlich sein, sehr schnell zu reagieren. Wer dann erst in den Analyse- und Entscheidungsprozess einsteigt, kann die getätigten Investitionen nicht mehr retten.