Seit den 1970er-Jahren haben sich eine Vielzahl von Branchen freiwillig Auflagen und Regelungen auferlegt. Politik und Wirtschaft erkannten den Vorteil solcher Regelungen für sich: Die Politik konnte darauf verweisen, im Dialog mit der Wirtschaft zu einer bindenden Regelung gekommen zu sein, während die Wirtschaftsvertreter eine Regulierung verhindert hatten.

Als prominentes Beispiel gilt die Reduktion der Einweg-Plastiktüten auf Initiative des Handelsverbands Deutschland. Diese trat 2016 in Kraft und setzte eine entsprechende EU-Richtlinie aus dem Jahr 2015 um. Selbst das Bundesumweltministerium bescheinigte der Initiative in den folgenden Jahren einen zweifelsfreien Erfolg. So wurden 2016 noch 68 Kunststofftüten pro Kopf pro Jahr in Deutschland genutzt, 2019 waren es nur noch 20. Allerdings war diese vermeintliche Selbstverpflichtung der Wirtschaft gar keine. Denn Handelsverband und Bundesumweltministerium haben 2016 vereinbart, dass gemeinsam die Maßnahmen und die Evaluierung der Umsetzung überprüft werden. Die Vereinbarung enthält darüber hinaus eine Kündigungsfrist für beide Parteien sowie die Klausel, dass sich das Bundesumweltministerium weitere Regulierungsmaßnahmen vorbehält. Dieses Instrument ähnelt also eher einem Vertrag als einer freiwilligen Erklärung.

Im November 2019 hat das Bundeskabinett auf Vorschlag von Umweltministerin Svenja Schulze dennoch das Komplettverbot für die Kunststofftüten auf den Weg gebracht. In ihrem Pressestatement verwies sie auf den Erfolg der freiwilligen Vereinbarung, der gezeigt hätte, dass man beim Einkaufen keine Plastiktüten brauche. Ein gänzliches Verbot solle bisherige Unternehmen, die sich nicht an der freiwilligen Vereinbarung beteiligt hatten, zu einem Verzicht zwingen. Die bisher erreichte Verringerung der Tüten solle so abgesichert werden. Wirkliche branchenseitige freiwillige Selbstverpflichtungen, wie beispielsweise die Kennzeichnung von Einwegflaschen durch die Getränkehersteller, haben einen noch geringeren aufschiebenden Charakter. 2016 verpflichteten sich Mitgliedsunternehmen des Handelsverbandes sowie verschiedene Verbände der Getränkeindustrie, Einweg-Pfandflaschen zusätzlich zu kennzeichnen. Nach Angaben des Handelsverbandes unterlagen im Jahr 2018 bereits 86 Prozent des Getränkemarktes dieser freiwilligen Verpflichtung. Dennoch schrieb die Bundesregierung ab dem 1. Januar 2019, Mehrweg- und Einwegflaschen besser unterscheidbar zu machen, in einem Gesetz fest.

Diese Beispiele zeigen auf, dass Unternehmen vor einer Herausforderung in ihrer Public Policy-Arbeit stehen. Freiwillige Selbstverpflichtungen „klingen zwar gut“ und werden meistens als eine proaktive Handlung von Branchenverbänden vorgeschlagen und umgesetzt, um eine strengere Regulierung als die selbstauferlegten Regeln zu verhindern. Jedoch kann das einzelne Mitgliedsunternehmen nicht darauf vertrauen, dass sich alle Marktteilnehmer der Selbstverpflichtung unterwerfen. Selbst wenn alle Marktteilnehmer „mitspielen“, ist die Wahrscheinlichkeit einer umfassenden Regelung durch den Gesetzgeber maximal aufgeschoben. Denn ein kollektives Zurückziehen der Industrie auf vorhandene Selbstverpflichtungen in Vorbereitung auf einen Gesetzgebungsprozess übersetzen die politischen Entscheider meistens mit einer kompletten Abwehrhaltung, die in Form eines Gesetzes überwunden werden sollte.

Diese Verfahren zeigen, eine erfolgreiche und klar definierte Vereinbarung zwischen Politik und Wirtschaft verhindert nicht weitere Regulierung, selbst wenn der politische Wille umgesetzt wurde. Der Mechanismus freiwilligen Selbstverpflichtung funktioniert nicht mehr. Unternehmen dürfen sich daher nicht mehr auf Verpflichtungen verlassen, sondern müssen proaktiv ihre politischen Anliegen vertreten. Eine individuelle Public Policy-Strategie ist Grundlage, geschäftsrelevante politische Themen aufzubereiten, eigene Lösungsvorschläge zu erarbeiten und sich vor politischen Verfahren mit Entscheidern austauschen. So kommen Unternehmen aus der Sackgasse der Selbstverpflichtung heraus und können die regulatorischen Rahmenbedingungen selbst proaktiv mitgestalten.

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