Ausgangslage

Die letzten Wahlen zum Deutschen Bundestag sowie zum Berliner Abgeordnetenhaus verliefen in der Bundeshauptstadt alles andere als reibungslos. Gründe hierfür waren fehlerhafte oder fehlende Wählerverzeichnisse, die zu geringe Anzahl der Wahlhelfer, die vorübergehende Schließung von Wahllokalen und insgesamt lange Wartezeiten vor der Stimmabgabe – sofern man es trotz der Sperrungen aufgrund des am selben Tag stattfindenden Berlin-Marathons überhaupt dorthin geschafft hatte. Angesichts der mangelhaften Umstände diskutieren Politik und Öffentlichkeit jetzt über Neuwahlen. Aber was bedeutet das eigentlich? Und wie kämen wir dahin?

Neuwahl gleich Neuwahl? 

Das Bundeswahlgesetz (BWG) unterscheidet zwischen der Neuwahl, Nachwahl und Wiederholungswahl. Eine Neuwahl ist die Konsequenz einer vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode, das heißt die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten. Das sieht das Grundgesetz (GG) in zwei Fällen vor: Wenn die Wahl des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin nicht durch die absolute Mehrheit der Abgeordneten erfolgt (Artikel 63 Absatz 4 GG) oder ein Antrag des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin, ihm oder ihr das Vertrauen auszusprechen, nicht die Unterstützung der Mehrheit der Bundestagsmitglieder findet (Artikel 68 GG). Im Falle einer Auflösung des Bundestages muss eine Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen erfolgen (BWG §39 Absatz 2). Wurde eine Neuwahl durchgeführt, tritt der neue Bundestag spätestens nach dreißig Tagen zusammen (BWG §39 Absatz 2). Laut BWG entspricht eine Neuwahl einer “normalen” Bundestagswahl, nur mit verkürzten Fristen. Die Wahlberechtigten müssen daher wie bei der regulären Wahl in die Wählerverzeichnisse eingetragen werden. Auch die Briefwahl muss erneut beantragt werden.

Eine Nachwahl findet nur dann statt, wenn in einem Wahlkreis oder Wahlbezirk die Wahl nicht durchgeführt werden konnte oder ein Wahlkreisbewerber – nach der Zulassung des Kreiswahlvorschlages, aber noch vor der Wahl – stirbt, wie es beispielsweise 2005 in Dresden der Fall war (BWG §43 Absatz 1). Im ersten Szenario soll die Nachwahl spätestens drei Wochen, im zweiten Szenario spätestens sechs Wochen nach der Hauptwahl stattfinden.

Eine Neu- oder Nachwahl kann somit als Konsequenz für die Berliner Chaos-Wahl vom 26. September 2021 ausgeschlossen werden. Für diese kann allerdings eine Wiederholungswahl angeordnet werden. Denn diese findet statt, wenn die Wahl im Wahlprüfungsverfahren ganz oder teilweise für ungültig erklärt wird (BWG §44 Absatz 1). Dafür muss der Wahlprüfungsausschuss eine entsprechende Empfehlung abgeben, die das Plenum des Bundestages annehmen muss.

Der Weg zur Wiederholungswahl  

Der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages hat am 8. September 2022 über die Beschlussempfehlung zum Einspruch des Bundeswahlleiters und zum Berliner Wahlgeschehen beraten. Die konkreten Beratungsergebnisse sind bis heute nicht an die Öffentlichkeit getreten. Die Abstimmung des Plenums über die Beschlussempfehlung soll nun diesen Monat (Oktober) stattfinden, um die Ergebnisse der Beratung des Berliner Verfassungsgerichtshofs zu einer möglichen Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl abzuwarten.

Das oberste Berliner Gericht kam am 28. September nun nach einer vorläufigen Einschätzung zu dem Schluss, dass die Wahlfehler mandatsrelevant waren, das heißt, Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die Mandatsverteilung hatten. Nur eine vollständige Wiederholungswahl könne einen verfassungsgemäßen Zustand herstellen. Diese Einschätzung des Berliner Verfassungsgericht wirkt sich nun auch auf die juristische Bewertung der Bundestagswahl aus. Denn die Entscheidung über die Wahlwiederholung des Deutschen Bundestages sollte ursprünglich am Donnerstag, den 29. September, im Wahlprüfungsausschuss getroffen werden, wird nun aber als Reaktion auf die Stellungnahme des Berliner Verfassungsgerichtshof vertagt.

Merkmale einer Wiederholungswahl

Wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung des Wahlprüfverfahrens seit der Hauptwahl noch keine sechs Monate vergangen sind, wird eine Wahl nach denselben Vorschriften, Wahlvorschlägen und Wählerverzeichnissen wiederholt (BWG §44 Absatz 2). Wird die Wahl vor Ablauf dieser sechs Monate nur in einzelnen Wahlbezirken wiederholt, können Wahlberechtigte an der Wahl teilnehmen, wenn sie ihren Hauptwahl-Wahlschein in den Wahlbezirken abgegeben haben, für die die Wahl wiederholt wird. Menschen, die seitdem aus dem Gebiet der Wiederholungswahl weggezogen sind, erhalten ihren Wahlschein auf Antrag mit Gültigkeitsvermerk für die Wiederholungswahl zurück (Bundeswahlordnung (BWO) §83 Absatz 4 & 5). Da nun seit der Hauptwahl bereits mehr als sechs Monate vergangen sind, können Abweichungen in Organisation und Durchführung durch die Entscheidung des Wahlprüfverfahrens erwartet werden. Findet die Wiederholungswahl nur in einzelnen Wahlbezirken statt, darf die Abgrenzung dieser aber nicht verändert werden (BWO §83 Absatz 2). Wahlvorschläge können nur dann geändert werden, wenn sich dies aus der Wahlprüfungsentscheidung ergibt oder wenn ein Bewerber verstorben oder nicht mehr wählbar ist.

Wahlscheine dürfen nur von Gemeinden in dem Gebiet, in dem die Wiederholungswahl stattfindet, erteilt werden. Wähler, die seit der Hauptwahl ihr Wahlrecht verloren haben, sind im Wählerverzeichnis zu streichen.

Die Wiederholungswahl muss spätestens sechzig Tage nach Rechtskraft der Entscheidung stattfinden, durch die die Hauptwahl für ungültig erklärt worden ist (BWG §44 Absatz 3). Angenommen das Plenum verabschiedet einen Beschluss für eine Wiederholungswahl in einer der beiden Sitzungswochen im Oktober (KW 41 oder 42), müsste die Wiederholungswahl nach Bundeswahlgesetz und Bundeswahlordnung also Mitte Dezember dieses Jahres stattfinden.

Den genauen Termin der Wiederholungswahl bestimmt der Landeswahlleiter. Dieses Amt übernahm zum 1. Oktober 2022 Politik- und Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler, der am 6. September 2022 vom Berliner Senat gewählt wurde. Er löst damit Ulrike Rockmann ab, welche den Wunsch, von dem Ehrenamt abzutreten, bereits Anfang des Jahres geäußert hatte.

Ableitungen aus dem Verfahren

Welche Auswirkungen ergeben sich demnach aus einer potentiellen Wiederholungswahl des Deutschen Bundestages in Berlin?

Laut Medienberichten steht für die Bundestagswahl eine partielle Neuabstimmung in 440 der insgesamt 2.257 Wahllokale Berlins zur Debatte. Betroffen davon wären alle zwölf Bezirke, insbesondere Pankow, Mitte und Reinickendorf. Die Wahl bliebe aber vermutlich – mit Ausnahme von Reinickendorf – auf die Zweitstimme beschränkt. Dort hatte sich Monika Grütters mit nur 1.788 Stimmen gegen den SPD-Kandidaten Torsten Einstmann durchgesetzt. Dies ist somit das einzige Direktmandat, das in der Schwebe hängen könnte.

Eine Wiederholungswahl des Bundestages, wie sie derzeit diskutiert wird – komprimiert auf das Bundesland Berlin und auf einzelne Wahllokale – wird allerdings kaum Auswirkungen auf die Mehrheitsverteilung im Bundestag haben, denn die Verschiebung in Zweitstimmen dürfte nicht besonders hoch ausfallen: Bei der letzten Bundestagswahl haben knapp 1,85 Millionen Berlinerinnen und Berliner gewählt, davon würden nochmal circa 20 Prozent neu wählen – also rund 370.000. Das entspricht gerade einmal 0,8 Prozent der Menschen, die sich an der Bundestagswahl 2021 insgesamt beteiligt haben.

Die Wiederholungswahl könnte allerdings sehr konkrete personelle Auswirkungen haben: Eine Verschiebung der Zweitstimmen könnte für einige Bundestagsabgeordnete, die über die Landeslisten ihrer Parteien gewählt wurden, das Ende ihrer Amtszeit bedeuten. Neueste Wahlumfragen machen einen Stimmungsumschwung zur vergangenen Wahl bereits deutlich: Bündnis 90/ Die Grünen und CDU/CSU gewinnen an Zustimmungswerten zulasten der SPD und FDP. Welche Abgeordnete um ihr Mandat bangen müssten, lässt sich aber erst genau abschätzen, wenn das Ausmaß der Wiederholungswahl durch den Wahlprüfungsausschuss festgelegt ist.