Wir lernen regelmäßig durch die Erfahrungen und Expertise von Externen. Unter anderem sprechen wir für unseren Bundestagswahl-Newsletter regelmäßig mit Entscheidungsträgern auf allen politischen Ebenen. Diese Gespräche und die daraus gewonnenen
Erkenntnisse können Sie zuerst in unserem
Newsletter lesen und später dann auch auf unserem Blog.

Im heutigen Interview mit Valerie Sternberg-Irvani (BTW-Spitzenkandidatin von Volt Berlin & Präsidentin von Volt Europa) sprechen wir über die Herausforderungen von jungen Parteien, zur Bundestagswahl anzutreten
und wie es dennoch gelingen kann einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen.


Vorab: Wie kamst du zu Volt und was hat dich vor allem dazu gebracht für Volt Berlin als Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl anzutreten?

Zu Volt bin ich 2017 als Folge auf das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump 2016 gekommen. Damals verstand ich, wie privilegiert es ist, dass wir in einer liberalen Demokratie und einem vereinigten Europa leben und dass es nicht so bleiben muss. Da habe ich beschlossen mich zu engagieren.
Ende letzten Jahres habe ich zudem festgestellt, dass in Deutschland eine Umbruchsstimmung herrscht. Viele Menschen sind auf der Suche und wissen beispielsweise nicht, was sie im September bei der Bundestagswahl wählen sollen. Bisher gab es keine Partei, die progressiv und vor allem positiv einen Plan für die Zukunft vorgelegt hat. Es gab auch keine Partei, die aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel und Digitalisierung europäisch angehen möchte. Das war der Punkt, an dem ich beschlossen habe, anzutreten. Denn wir als Volt haben sowohl als europäische Partei, aber auch als Partei der progressiven Mitte unfassbares Potential, weil diese Mitte zurzeit leergefegt ist.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, diesen europäischen Anspruch auch als Abgeordnete in einem nationalen Parlament zu integrieren?

Bei Volt findet das bereits statt, da beispielsweise in den Niederlanden Abgeordnete in die sogenannten Tweede Kammer (Anm.: in etwa vergleichbar mit dem Deutschen Bundestag) gewählt wurden. Diese nationalen Abgeordneten tauschen sich monatlich in einem Call mit unserem Europaabgeordneten Damian Boeselager und anderen europaweit gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Parlamente auf lokaler und regionaler Ebene aus.

Man erweitert dadurch den Horizont und schafft die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und als deutsche Abgeordnete beispielsweise den niederländischen Volt-Abgeordneten anzurufen und zu fragen, wie die eine Herausforderung angehen. Man kann davon lernen und es in die eigene Strategie mitaufnehmen. Das kann nur befruchtend sein.

Die Konditionen, um bei den Wahlen antreten zu können, sind in Deutschland durch die Unterschriftensammlung sehr genau geregelt. Kann sich Deutschland bei anderen europäischen Ländern etwas abschauen?

Im europäischen Vergleich lässt sich festhalten, dass die Anforderungen für junge Parteien in Deutschland fair sind. Auch wenn sie für kleine Parteien nicht einfach sind.

Das Einzige, was sich wie in vielen bürokratischen Verfahren beanstanden lässt, ist, dass der Prozess nicht digitalisiert ist.
Für junge und kleine Partei ist insbesondere die Niederlande ein Vorbild, wie man mit geringen Hürden eine stabile Demokratie führt. Denn dort werden die vielen Stimmen als Bereicherung gesehen. Dort wird etwas Neues grundsätzlich als etwas Positives aufgefasst, während in Deutschland etwas Neuem gegenüber erstmal überwiegend mit Skepsis entgegnet wird.

In Deutschland ist die 5%-Hürde oft ein großes Hindernis für junge, weniger etablierte Parteien. Was entgegnet Volt skeptischen Wählern, die Angst haben, dass ihre Stimme mit einer Wahl von Volt „verloren“ gehen könnte?

Wir verfolgen dabei zwei Wege: Zunächst wollen wir natürlich die 5% Hürde überspringen. Vermeintlich unmögliches haben wir ja auch schon mal t bei der Europawahl geschafft. Denn da haben wir, nach nur einem Jahr unserer Gründung einen Sitz im Europäischen Parlament gewonnen. Und genauso wollen wir nun mit Mut und Selbstbewusstsein in diese Bundestagswahl gehen.

Außerdem geht die Stimme nicht verloren, denn jede Stimme für uns, auch wenn wir nicht in den Bundestag einzögen, ist gleichzeitig ein Statement. Das bedeutet auch, jede Stimme für uns wird in der Zukunft gegenfinanziert und bedeutet somit einen Euro mehr für eine europäische, progressive Partei und Stimme in der deutschen Politik.

Parallel werden wir uns auf aussichtsreiche Direktwahlkreise konzentrieren, die wir datenanalytisch sehr genau definiert haben. Ich werde für Berlin Mitte kandidieren. (Anm.: gewonnene Direktmandate sind nicht abhängig von der 5%-Hürde)

In deiner Funktion als Spitzenkandidatin: Was sind deine größten Learnings, die für Außenstehende vielleicht nicht so sichtbar sind?

Viele Dinge wiederholen sich in den verschiedenen Wahlkämpfe, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, und sind somit nicht allzu überraschend. Trotzdem möchte ich den Stellenwert des Fundings hervorheben. Wir sind im Gegensatz zu den anderen Parteien deutlich geringer finanziert, da wir keine Parteienfinanzierung in der gleichen Größenordnung haben und auch noch keine treuen Spender. Somit sind wir deutlich mehr auf Fundraising-Kampagnen angewiesen.

Ein weiteres Learning ist zudem die Notwendigkeit, sich ein Netzwerk aufzubauen – vor allem bei Themen, die einem am Herzen liegen. Dabei geht es gar nicht nur darum Wählerstimmen zu bekommen, sondern auch darum, sich selbst zu testen. Das bedeutet beispielsweise mit Schülervertretern oder Lehrern zu sprechen, wenn einem Bildung am Herzen liegt, um sich selbst einen Realitätscheck zu geben.

Volt tritt nun zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl an. Woher weiß Volt, worauf es in einem Bundestagswahlkampf ankommt? Orientiert ihr euch an anderen Parteien, die darin erfahren sind?

Wir versuchen möglichst logisch zu denken. Dabei schauen wir natürlich auch, was andere Parteien machen, damit wir das Rad nicht neu erfinden, sondern eher für uns nutzen. Gleichzeitig wollen wir aber nicht einfach nur kopieren und blind dasselbe reproduzieren.

Für die Europawahl haben wir beispielsweise unser Budget zu 50% für die Offline- und zu 50% für die Online-Kampagne geteilt. Andere Parteien hatten das bisher kaum gemacht und so wurde zu häufig online das Feld der AfD überlassen. Da die jüngere Generation zwischen 18 und 35/40 Jahren aber stark online fokussiert ist, muss man dieses Feld auch bespielen.

Trotzdem: Wenn man offline nicht stattfindet, dann wird man auch online nicht ernst genommen beziehungsweise einem wird nicht vertraut. Denn wenn die Wählerin oder der Wähler kein Gesicht zu einer Partei kennt und noch nie „Volter“ oder Plakate der Partei in der Straße gesehen hat, dann fehlt ihm oder ihr auch der Zugang zur Partei.

Das war wiederum auch ein Mehrwert für uns bei der Europawahl, den wir nun reproduzieren wollen: Durch wahnsinnig viele und motivierte Volunteers, die bereits Monate vor der Wahl durch die Straßen gelaufen sind, schaffen wir Nähe und dadurch konnten wir als Newcomer den anderen Parteien gegenüber wieder etwas rausholen.

Viele Parteien berichten, dass neben dem Revival der großen Werbeplakate in der Pandemie vor allem der digitale Wahlkampf zunimmt. Wie du gesagt hast, war dies auch bereits 2019 für euch der Fall. Welche Vor- und Nachteile siehst du darin?

Der Nachteil für Volt ist, dass digitaler Wahlkampf, vor allem inklusive Microtargeting etc., sehr teuer ist, wir allerdings nur begrenztes Funding haben.
Der Vorteil bei uns ist jedoch, dass unsere Volunteers online sehr aktiv sind und durch viel Engagement in Kommentaren und Likes von alleine eine große organische Reichweite erreichen. Online-Wahlkampf ist also gerade für uns aus zweierlei Sicht zu betrachten.

Abschließend, wenn du im September gewählt wirst und dir aussuchen könntest, welche drei Veränderungen von jetzt auf gleich umgesetzt werden, welche wären das?

Einerseits würde ich ein Ministerium für europäisches Best Practice-Sharing einführen. Dann ein Querschnittsministerium für Bürger*innen-Befähigung und als drittes fordern, dass Deutschland ein sogenanntes Wellbeing Economy Government wird. Das bedeutet, dass die Regierung sich dazu verpflichtet, nicht nur auf Wachstum in ihrer Gesellschaft zu achten, sondern vor allem andere Größen, wie z.B. Nachhaltigkeit oder das Wellbeing einer Gesellschaft als Zielfaktoren definiert.

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