Lange Zeit war alles recht einfach: Im Bundestag entscheidet die Regierungskoalition, im Bundesrat eine wechselnde Mehrheit an Bundesländern, die entweder SPD- oder Unions-geführt sind. Für die Koordinierung der Länderaktivitäten nimmt seit jeher die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) eine entscheidende Rolle ein. Zum Monatsbeginn hat in diesem Gremium turnusgemäß Bayern den Vorsitz von Hamburg übernommen. Alles business as usual? Keinesfalls. Denn für Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) werden die Abstimmungen auf Länderebene deutlich komplizierter, als es die Theorie es vermuten lässt.
Ursächlich dafür sind drei fundamentale Änderungen, die sich in den vergangenen Jahren im föderalen Gefüge vollzogen haben:
- Es verhandelt schon länger nicht mehr ein homogener Block sozialdemokratisch geführter „A-Ländern“ mit christdemokratisch geführten „B-Ländern“.
- Der Weg zur 35 Stimmen-Mehrheit im Bundesrat ist steiniger geworden – auch weil einige Bundesländer sich nicht mehr klar einer Seite zuordnen lassen.
- In der Praxis koordinieren sich verstärkt die jeweiligen Fachpolitiker und Fachressorts. So sind die Abstimmungsrunden aller CDU-Gesundheitsminister teils bedeutender als das allgemeine Vorabtreffen der B-Länder.
Hintergrund hierfür ist die Etablierung neuer Koalitionen, vom Kenia-Modell (CDU, SPD und Grüne) in Sachsen-Anhalt, über die Ampel-Koalition (SPD, FDP, Grüne) in Rheinland-Pfalz, das Jamaika-Bündnis (CDU, FDP, Grüne) in Schleswig-Holstein bis zu Thüringen, das mit Bodo Ramelow den ersten Linken-Ministerpräsidenten stellt, der mit SPD und Grünen regiert. Die Wahlen in Sachsen und Brandenburg verstärken diesen Trend – in beiden Ländern wird jeweils ein Dreierbündnis aus CDU, SPD und Grünen verhandelt. Zweier-Bündnisse mit eindeutiger Lagerzugehörigkeit und klarem Juniorpartner gibt es aktuell nur noch in Bayern (CSU und Freie Wähler), in Hamburg (SPD und Grüne) und in Nordrhein-Westfalen (CDU und FDP).
Entsprechend verwundert es kaum, dass an den Bundesrat-Vorbereitungsrunden der A- beziehungsweise B-Länder am Donnerstag vor dem freitäglichen Plenum längst nicht mehr alle Ministerpräsidenten teilnehmen. Größtes Novum war zunächst, dass die Grünen in Baden-Württemberg einen Ministerpräsidenten stellen. Dass Winfried Kretschmann auch an Vortreffen der Unionsländer teilnimmt, demonstriert den Kulturwandel in der Praxis.
Ist das Konzept der A- und B-Länder damit überholt und müssen die Lehrbücher zum politischen System Deutschlands neugeschrieben werden? Eine klare Antwort darauf gibt es nicht, es bedarf einer differenzierteren Ausführung:
1. Die ganz große Koalition wird Realität
Aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse müssen die politische Akteure bei immer mehr Themen den großen überparteilichen Schulterschluss in der Bund-Länder-Politik suchen – Stichwort Klimapaket, Flüchtlingspolitik oder Föderalismusreform. Hier ist der Dualismus von CDU und SPD längst aufgebrochen, vor allem die Grünen können zentrale Entscheidungen durch ihre Mitgliedschaft in demnächst wohl elf Landesregierungen blockieren.
- Das bedeutet: Die Umsetzung großer politischer Reformen wird erschwert und den Ländern eine immer größere Kompromissbereitschaft abverlangt.
2. Landesinteresse schlägt Parteipolitik
Auch in Zeiten des Wandels gibt es eine Konstante: im Zweifel geht im Föderalismus das Landesinteresse über das Parteiinteresse. Nicht umsonst klagen die Spitzen von CDU, SPD und Grünen auf Bundesebene, wenn Asylkompromisse oder Einigungen bei den Länderfinanzen von den eigenen Parteifreunden auf Landesebene blockiert werden.
- Das bedeutet: Die Parteiräson der Bundesebene diszipliniert in Zeiten großer Koalitionsbündnisse die Landesebene immer weniger.
Klar bleibt dabei: In seinen Grundfesten erschüttern diese neuen Entwicklungen das politische System nicht. Die Komplexität von Verfahren und die Anzahl der relevant beteiligten Akteure hat aber spürbar zugenommen. Umso mehr gilt auch heute: Wer Politik verstehen will, muss die Rolle der Bundesländer, deren Einfluss in den Gremien sowie die jeweiligen Gesprächskreise und Koordinationsgruppen im Blick behalten.