Die besten Entscheidungen sind wohlüberlegt und ausgewogen. Das gilt nicht zuletzt in Demokratien, denn hier wirken alle Bürger an Entscheidungen öffentlichen Interesses mit. Um sie zu treffen, braucht die Wahlbevölkerung deshalb genug Informationen – am besten alle verfügbaren. Oder doch nicht?
Dank des Internets verfügen wir über eine unvorstellbare Masse an Wissen und Informationen. Trotzdem mehren sich unter Politologen längst Stimmen, die mit Blick auf das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps der Demokratie den baldigen Kollaps bescheinigen. Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zählen dazu, genauso Yascha Mounk mit seinem Werk „Der Zerfall der Demokratie“. Eine wiederkehrende These vieler Autoren ist dabei, dass die Bürger im Zeitalter des Internets nur über eine bedingte Urteilskraft verfügen. Doch ist diese Ansicht wirklich neu?
Die Willensbildung durch die Bürger auf Basis von Informationen wird seit jeher immer wieder in Frage gestellt – und damit auch die Demokratie als solche. Zu einem der einflussreichsten und für viele bis heute überzeugendsten Kritiker gehörte der US-Journalist Walter Lippmann. Sein Werk „Public Opinion“ ist nun bereits fast 100 Jahre alt. Trotzdem scheint es an vielen Stellen aktueller denn je.
Lippmann war enger Berater von US-Präsident Woodrow Wilson, glühender Anti-Kommunist und einflussreiches Mitglied des Committee on Public Informationen. Dieses hatte während des Ersten Weltkrieges den Auftrag, die Meinung in der amerikanischen Bevölkerung so zu beeinflussen, dass die zunächst große Kriegsskepsis einer breiten Unterstützung für ein militärisches Eingreifen der USA in Europa wich. Unter diesem Einfluss kam er zu dem Schluss, dass Bürger eben nicht in der Lage seien, ein fundiertes Verständnis von Fragen öffentlichen Interesses zu erlangen, auf dessen Basis sie überlegte Entscheidungen treffen können. Die dafür notwendigen Informationen lägen, so Lippmann, dem größten Teil der Bürger nicht vor. Wichtigste Ursache dafür sei die Presse, die auf der Jagd nach der nächsten Schlagzeile mal bewusst, mal unbewusst den Berichtgegenstand, die eigentlich Information, unterschlage.
Lippmann forderte deshalb ein unabhängiges Expertengremium, das die Informationen ganzheitlich aufnehmen und in politische Entscheidungen umsetzen könne. Die Folgerung mag radikal sein – trotzdem liegt sie uns nicht völlig fern: Kaum ein Kommentator, der nicht mit großem Unverständnis hinterfragt hat, wie der britische Premier David Cameron überhaupt auf die Idee kommen konnte, die Bürger im Rahmen eines Referendums über den Brexit abstimmen zu lassen. Umgekehrt sahen in der jüngeren Vergangenheit nur wenige Politikbeobachter die italienische Technokraten-Regierung unter Mario Monti kritisch – obwohl diese nur bedingt demokratisch legitimiert war.
Sind Lippmanns Beobachtungen noch heute aktuell? Hat er recht – oder sind die Bürger heutzutage deutlich besser informiert, sodass es kein Expertengremium braucht?
Zu Lippmanns Zeiten in den frühen 1920er-Jahren waren es vor allem Zeitungen, die Informationen filterten und übermittelten. Diese „Gatekeeper“-Funktion ist den klassischen Medien, so scheint es heute, inzwischen verloren gegangen: Das Internet überflutet uns mit einer schier unendlichen Fülle an Informationen. Selbst kleinste Nischenthemen finden im Netz eine Öffentlichkeit.
Grundsätzlich erscheint das – auch im Sinne Lippmanns – als eine positive Entwicklung. Allerdings erwachsen aus ihr auch zwei große Herausforderungen:
- Der Verlust der Allgemeingültigkeit: Jede Information, so basal sie auch erscheinen mag, wird heute hinterfragt, kaum etwas als allgemeingültiges Faktum akzeptiert. Das macht es schwerer denn je, Informationen, die für die Allgemeinheit von Wert und Gültigkeit sind, auch entsprechend zu vermitteln.
- Die direkte Information: Die Informationsflut, noch dazu ohne klassischen Gatekeeper, trifft ungefiltert und direkt auf ihre Leser, Zuschauer und Zuhörer. Eine Einordnung von Hintergründen, zugrundeliegenden Interessen und Relevanz findet kaum noch statt. Alles scheint wichtig und unwichtig zugleich.
Stellen müssen sich diesen Herausforderungen alle, die sich mit der Vermittlung, Aufbereitung und Einordnung von Informationen beschäftigen: Journalisten, Politiker, Kommunikatoren. Sie müssen sich fragen, wie sie ihre Glaubwürdigkeit untermauern, damit Informationen und Wissen den Status der Allgemeingültigkeit erlangen bzw. zurückerlangen können.
Gleichwohl gilt: Demokratien sind agiler und flexibler als befürchtet. Auch vor bald 100 Jahren wurde ihnen ein schnelles Ende vorausgesagt. Eingetreten ist diese Dystopie nicht. Dennoch haben sich die Entscheidungsverfahren, Meinungsbildungsprozesse und Informationsflüsse fundamental verändert. Darauf gilt es Antworten zu finden. Lippmann kann uns hier sicherlich vor allem zeigen, auf welche Gefahren immer wieder zu achten ist. Praktische Tipps zum Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit gibt er uns nicht.
Walter Lippmann (1922): Public Opinion.