Als „heiße Phase des Wahlkampfs“ werden gemeinhin die letzten vier bis sechs Wochen vor dem Wahltermin bezeichnet. Die Kandidaten schärfen ihr Profil mit großen Wahlkampfauftritten und kommunizieren auf allen Kanälen – zeitgleich nimmt die mediale Aufmerksamkeit zu. Kandidaten und Parteien werben auf den letzten Metern um jede Stimme und sind für gewöhnlich im Straßenbild omnipräsent.

Auch wenn diese Erzählung schon immer in erster Linie für die Bundestagswahl zutraf, erstaunt der Blick auf Deutschland wenige Wochen vor der Europawahl am 26. Mai. Denn weiterhin sind die Spitzenkandidaten der großen Parteien weitestgehend unbekannt – selbst unter eingefleischten Parteianhängern. Und dies ist nicht nur der subjektive Eindruck, der bei Gesprächen im Freundes- und Familienkreis entsteht.

Mittlerweile haben diverse Meinungsforschungsinstitute in repräsentativen Umfragen festgestellt, dass selbst die aussichtsreichsten Kandidaten der Mehrheit der Bevölkerung unbekannt sind und die Deutschen die Europawahl kaum Relevanz beimessen. Und die Rede ist hierbei nicht von Politneulingen, die als lokale Landeskandidaten auftreten, sondern von bundesweiten Spitzenkandidaten mit langjähriger politischer Karriere.

Diese Momentaufnahme erstaunt doch, schließlich ist in kaum einem anderen Land der EU die Zustimmung zum europäischen Projekt so hoch. Auch die politische Bedeutung der europäischen Institutionen wird seit Jahren gebetsmühlenartig von Politik, Medien und Wirtschaft betont. Den meisten wird in diesem Zusammenhang noch die These von Altpräsident Roman Herzog bekannt sein, dass mehr als achtzig Prozent aller Gesetze aus Brüssel kämen.

Warum kennt mitten in der heißen Wahlkampfphase in einem traditionell europafreundlichen Land dann laut YouGov-Umfrage von Ende April nur jeder Zwanzigste den zweiten SPD-Spitzenkandidaten Udo Bullmann? Oder warum ist nur etwa jedem Vierten der Name Manfred Weber ein Begriff, der als Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten die gesamte europäische Volksparteien-Familie im Wahlkampf anführt?

Die Gründe hierfür sind sicherlich vielschichtig und offenbaren zeitgleich einige Defizite der europäischen Demokratie. Zum einem sind öffentliche Debatten auch in Zeiten fortschreitender digitaler Vernetzung und schwindender Relevanz von innereuropäischen Grenzen durch nationale Themen geprägt. Europäische Politik spielt in den klassischen Medien sowie in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle.

Zum anderen werden die Europawahlen nicht nur von der Wählerschaft sondern auch von den Parteien eher als Nebenwahl wahrgenommen und teilweise als Testphase für nationale Kampagnen genutzt. Das hat auch ganz pragmatische Gründe – etwa mit Blick auf die eher beschränkten Einflussmöglichkeiten in einem fragmentierten Europäischen Parlament. Eine der zentralsten Schaltstellen der Macht ist weiterhin der von nationalen Regierungsvertretern besetzte Europäische Rat. Nationale Mandate und Machtoptionen erscheinen so noch deutlich attraktiver, auch um Einfluss auf die europäische Politik auszuüben.

Was folgt aus der Erkenntnis, dass aufgrund der eben skizzierten Ursachen die wichtigsten Köpfe und Streitthemen der diesjährigen Europawahl noch nicht in der breiten öffentlichen Wahrnehmung verankert sind?

  • Eigeninitiative lohnt sich, denn Europa steht am Scheideweg
    Auch wenn der subjektive Eindruck oft ein anderer ist: Die EU steht vor zentralen Zukunftsfragen, die in der neuen Legislaturperiode beantwortet werden müssen. Sei es der Umgang mit dem Brexit, der Globalisierung, der Aufstieg populistischer Parteien oder der Umgang mit Migration und dem Klimawandel, um nur einige Themen zu nennen. Der Ausgang der Wahl hat in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Zukunft des Kontinents. Noch ist genügend Zeit, um Parteiprogramme zu studieren und eine kluge Wahlentscheidung zu treffen.
  • Impulse für mehr Aufmerksamkeit benötigt
    In der jüngeren Vergangenheit wurden diverse Ideen diskutiert, um das Interesse an der Europawahl zu steigern. Auf dem Weg zur europäischen Öffentlichkeit ist es noch ein weiter Weg. Politik und Gesellschaft sind gleichermaßen zur Entwicklung entsprechender Strukturen und Ideen gefordert, wenn ein ernsthaftes Interesse an einem zukunftsfähigen Europa besteht.