Abseits der richtungspolitischen Fragen um die Zukunft des Sozialstaates oder der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hängt ein Thema wie ein Damokles-Schwert über dem politischen Berlin: die Zukunftsfähigkeit der Großen Koalition.
Sei es die Entscheidungsträgerin, der politische Analyst, die Interessensvertreterin oder der gut informierte Hauptstadtkorrespondent – sie alle spekulieren über den Fortbestand der Großen Koalition. Das mangelnde Vertrauen in die Ausdauerfähigkeit der Bundesregierung zieht sich wie ein roter Faden vom Koalitionsvertrag mit eingebauter Revisionsklausel über die Krisen unterschiedlicher Couleur bis hin zur schwindenden Hausmacht der Bundeskanzlerin.
Bis dato fokussierte sich die interessierte Öffentlichkeit auf die geschrumpften Sozialdemokraten: Gelingt es der Führung, den erneuten Eintritt in die Große Koalition der Basis schmackhaft zu machen? Wie reagiert das Willy-Brandt-Haus auf sinkende Umfragewerte und Wahlniederlagen auf Landesebene? Welches Thema und welche Personalentscheidung ist es wert, die Koalition platzen zu lassen?
Nur wenigen Beobachtern kommt in den Sinn, dass sich die Unionsparteien in ähnlich unruhigem Fahrwasser bewegen. Die Neuausrichtung der Christdemokraten vollzog sich zwar deutlich geräuschloser, aber keinesfalls weniger tiefgreifend. Während zunächst die konservativen Mandatsträger in den inhaltlichen Verhandlungen auf Arbeitsebene vehement Koalitionstreue einforderten, wendete sich in jüngster Vergangenheit das Blatt.
Der bewusste Koalitionsbruch hat sich spätestens mit der neuen CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer zu einem realistischen Szenario entwickelt. Konsequenterweise verkündete die ehemalige saarländische Ministerpräsidentin, dass auch sie im Herbst Halbzeitbilanz ziehen und über die weitere Zusammenarbeit der Regierung diskutieren möchte. Weiterhin wird kolportiert, dass im Konrad-Adenauer-Haus mit heißer Nadel ein Ausstiegsszenario für die Zeit nach der Europawahl im Mai gestrickt wird – vor allem als Absicherung vor Panikreaktionen des Koalitionspartners.
Doch was lernen wir vom ständigen Auf und Ab der Fieberkurve der Regierung?
- Totgesagte leben länger, gerade im politischen Berlin
Schien das Bündnis aus CDU/CSU und SPD am Wahlabend des 24. September 2017 bereits Geschichte, wurden nach der Vereidigung der Kanzlerin im Frühjahr 2018 im Eilverfahren zahlreiche Projekte umgesetzt. Unabhängig von der öffentlichen Wahrnehmung funktioniert die Sacharbeit. Selbst in Zeiten von Dauerzoff im Kanzleramt werden weiter Gesetze eingebracht und verabschiedet. - Das Gleichgewicht des Schreckens wirkt befriedend
Sachdebatten sind das eine, Mandate sind das andere. Egal wie hoch der Frustfaktor ist, wenn die eigene Programmatik nur bedingt umgesetzt wird – der Blick auf die Umfragewerte und die Angst vor einem Mandatsverlust scheint größer. Noch ist dieses Gleichgewicht des Schreckens nicht aus den Fugen geraten. - Erneuerung braucht Zeit und ruhiges politisches Fahrwasser
Große Volksparteien haben keine Start-up-Mentalität und ein selbstverordnetes Change-Management lässt sich auch von externen Akteuren kaum beschleunigen. Wer sich von Grunde auf erneuern und jeden Stein im eigenen Haus umdrehen möchte, ist nur bedingt kampagnen- und wahlkampffähig. - Wahlkampfträgheit der Spitze
Alle genannten Argumente erklären die natürliche Neigung der Entscheider, den Status Quo bis zum Abschluss des Erneuerungsprozesses und bis zur Absehbarkeit von Wahlkampferfolgen zu erhalten. Die Wirkmächtigkeit der von oben verordneten Parteiräson ist nicht zu unterschätzen. - Stresstests im Herbst
Die große Unbekannte in der Koalitionsgleichung ist die Unberechenbarkeit des Mittelbaus und der Landesfürsten. Wahlniederlagen bei Europa- und Landtagswahlen könnten das fragile Gleichgewicht der Regierungsparteien zerstören und die Koalition zum Platzen bringen.