Seit der Vorstellung des Koalitionsvertrages sind einige Monate vergangen. Die neue Bundesregierung ist im Amt, die Ministerien sind personell umgestaltet worden und die Weichen für die neue Legislaturperiode sind gestellt. Doch: Auch bei der Umsetzung des Koalitionsvertrages muss priorisiert werden, welche Themen zuerst und welche später behandelt werden. Im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ist dabei die Agrarpolitik in den Fokus gerückt.


Fokusthema Ernährung?

 

Im Koalitionsvertrag sind einige ambitionierte Themen im Bereich der Ernährungspolitik aufgegriffen worden. Das für 2023 geplante Werbeverbot für Zucker, Salz und Fett für Unter-14-Jährige, zu dem sich die vorige Bundesregierung nicht durchringen konnte, wurde bereits umfassend medial aufgegriffen. Geplante Programme für mehr ökologische Ernährung in öffentlichen Einrichtungen oder die Weiterentwicklung eines EU-weiten Nutriscore vermitteln eine – zumindest augenscheinliche – Prioritätensetzung zugunsten der Ernährungspolitik.

Während diese Themen sicherlich eine große Medien- und Öffentlichkeitswahrnehmung haben, da sie alle Bürger unmittelbar betreffen, zeigt sich bei näherer Betrachtung ein Bild, das den Fokus auf die Agrar-, statt auf die Ernährungspolitik legt. Dafür lohnt sich zunächst ein Blick in den Koalitionsvertrag. Im zuständigen Kapitel – das passenderweise entgegen der herkömmlichen Wortreihenfolge „Landwirtschaft und Ernährung“ heißt – finden sich zwei Abschnitte zur Ernährung, hingegen sieben, die die Landwirtschaft behandeln. Anders formuliert: 230 Wörter für Ernährung, knapp 1200 für Landwirtschaft.

Worin liegt der Grund für diese augenscheinlich eindeutige Gewichtung? Die Antwort im Umwelt- und Klimaschutz: In der Landwirtschaft sieht die Bundesregierung und vor allem Bündnis 90/Die Grünen erhebliche Umwelt- und Klimaschutzpotentiale, die es auszuschöpfen gilt. Sei es mit Blick auf die Tierhaltung, den Transport von Agrarprodukten oder den Pestizidverbrauch: Die Bundesregierung hat sich in diesem Politikfeld viel vorgenommen.

 

Eine strategische Allianz?

 

Dabei eröffnen sich vielfältige Überschneidungen zwischen klassischer Agrarpolitik und Umwelt- sowie Klimaschutzpolitik. Viele Vorhaben des Klimaschutzes haben auch direkte Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Dementsprechend wird es die gesamte Legislaturperiode über einen hohen Abstimmungsbedarf zwischen dem BMEL und dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) geben. Die beiden Ressortchefs Cem Özdemir (BMEL) und Steffi Lemke (BMUV) haben für ihre Ministerien eine „strategische Allianz“ in diesen Themen angekündigt.

Hier zeichnet sich ein starker Kontrast zur vergangenen Legislaturperiode ab, in der Ernährungs- und Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) und Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) in regelmäßige Streitigkeiten verwickelt waren. Im Gegensatz dazu soll die Arbeit der beiden grünen Häuser ausdrücklich von Partnerschaftlichkeit geprägt sein, die um eine regelmäßige Abstimmung mit Dr. Robert Habeck als Wirtschafts- und Klimaschutzminister ergänzt wird. So soll in diesen Themenbereichen eine abgestimmte „grüne“ Position herbegeführt werden. Im Parlament wird die Arbeit des BMEL unter anderem durch die zuständige fachpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Renate Künast, begleitet, die bereits als Ernährungs- und Landwirtschaftsministerin gewirkt hat. Diese Haltung der Partnerschaft bekräftigte Lemke auch auf dem Agrarkongress 2022 in Januar, der zwar die Landwirtschaft behandelt, aber passenderweise vom BMUV veranstaltet wurde.

In wenigen Worten: Die Landwirtschaft steht im Fokus des BMEL, weil Umwelt und Klima im Fokus der gesamten Bundesregierung stehen. Ernährung soll als dritter Schritt folgen, der Koalitionsvertrag sieht eine „nachhaltige Landwirtschaft“ als „Grundlage einer gesunden Ernährung“.

In verschiedenen Themengebieten soll das BMUV an der Arbeit des Landwirtschaftsressorts beteiligt werden. Ein Beispiel ist die Architektur der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP), die wesentliche Bereiche der Agrarpolitik in Deutschland reguliert und die Landwirte von 2023 bis 2027 mit mehr als 30 Milliarden Euro unterstützt. Diese soll 2024 vom BMEL evaluiert werden. Bundesminister Özdemir plant bereits jetzt, das BMUV an dieser Evaluierung zu beteiligen, um Umwelt- und Naturschutzmaßnahmen in der Reform stärker in den Mittelpunkt stellen zu können. Die für 2023 geplante Abschaffung von Glyphosat oder die Vorgabe von nicht-produktiven Flächen für die Errichtung von Blühstreifen und Hecken sind weitere Beispiele für Themen, die im BMEL angesiedelt sind und trotzdem eine umweltpolitische Relevanz haben.

 

Welche agrarpolitischen Themen stehen darüber hinaus auf der Agenda der Bundesregierung?

 

Neben den schon genannten Themen hat die Bundesregierung weitere agrarpolitische Projekte im Blick. So soll die Möglichkeit geprüft werden, den Verkauf von Produkten unter ihrem Produktionswert zu verbieten, um Landwirte zu unterstützen. Beim Umbau ihrer Höfe zugunsten von mehr Tierschutz sollen Landwirte von der Bundesregierung sowohl bürokratisch als auch finanziell begleitet werden. Bis 2030 soll 30% der Fläche in Deutschland ökologisch bewirtschaftet werden, darüber hinaus sollen mehr Alternativen zu chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln gestärkt werden. Dabei sollen auch digitale Instrumente zum Einsatz kommen, um ziel- und passgenaueren Pflanzenschutz zu ermöglichen und so die Biodiversität zu fördern.

Auch personell ist das Haus auf die Arbeit im Agrarbereich ausgerichtet. Mit Staatssekretärin Silvia Bender hat Özdemir eine Agrarwissenschaftlerin in das Ministerium geholt, die neben Stationen in den Landwirtschaftsministerien in Rheinland-Pfalz und Brandenburg auch schon als Abteilungsleiterin Biodiversität beim BUND gearbeitet hat. Dr. Ophelia Nick als grüne Tierschutz- und Tierhaltungsexpertin kann die Agrarwende vor allem im Bereich der Viehwirtschaft als Parlamentarische Staatssekretärin inhaltlich begleiten. Die Hausspitze komplettiert die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Manuela Rottmann als versierte Rechtspolitikerin, die die verschiedenen boden-, wasser- und baurechtlichen Veränderungen, die mit den Plänen des Ministeriums einhergehen, einschätzen und mitgestalten wird.

Zusammenfassend: In der Agrarpolitik werden in dieser Legislatur viele Themen auf dem Tisch liegen. Dabei bedarf es eindeutig an fachlichem Sachverstand aus den betroffenen Industrien: Viele agrarpolitische Themen sind so komplex, dass die Folgen von politischen Entscheidungen von den Stakeholdern in Parlament und Regierung nicht in ihrer Gänze erfasst werden können. Es wird daher ausreichend Gelegenheit geben, politische Interessensvertretung zu betreiben und gute Argumente zu platzieren.

Ernährungspolitische Themen werden in diesem Rahmen zuvorderst von der Fachebene bearbeitet. Public Policy-Verantwortliche für diese Themen sollten sich daher zeitnah bei den entsprechenden Ansprechpartnern vorstellen und ihre Themen bzw. Argumente einbringen, um so tragfähige Kontakte für die ganze Legislaturperiode aufzubauen.

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