Gemeinsam mit dem Hamburger Tech-Unternehmen Wunder Mobility veröffentlichen wir einen monatlichen Mobility-Policy-Newsletter. Im Fokus stehen alle Fragen rund um das Thema Mobility, Regulierung und Technologie. Auf unserem Blog veröffentlichen wir nun den nächsten Artikel zum Thema „Taktischer Urbanismus“. Hierzu haben wir uns auch mit Antje Kapek, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, ausgetauscht.

Das Einrichten von Pop-up-Fahrradwegen und die Erweiterung von Fußgängerzonen während der COVID-19-Pandemie ist ein Phänomen, das viele Städte auf der ganzen Welt beeinflusst hat. Neue Regeln und Routinen des Social Distancing entwickelten sich zur neuen Normalität, als vor allem gehen und Rad fahren als sichere Methoden der Mobilität in städtischer Umgebungen empfohlen wurden. Untersuchungen zeigen, dass bis Mai 2020 in mehr als 140 Städten auf der ganzen Welt lokale Maßnahmen zur Unterstützung des Gehens und Radfahrens in Zeiten von Social Distancing umgesetzt wurden, wobei sich viele von ihnen auf die Umwidmung von Parkplätzen und Straßenspuren fokussierten.

Die Umstrukturierung von öffentlichem Raum mit der Absicht, dass sich die Bürger aktiver mit ihrer städtischen Infrastruktur auseinandersetzen, ist Teil einer neuen Bewegung in dicht besiedelten Gebieten. So sollen Ideen entwickelt und Alternativen geprüft werden, die eine Stadt lebenswerter machen können. Bereits 2005 haben Stadtplaner und Aktivisten in den USA Ideen gesammelt, wie bürgergeführte Projekte ihren politischen Entscheidungsträgern die Möglichkeiten zur Neugestaltung von Parkplätzen aufzeigen könnten. Bis 2009 führte dieser Aktivismus dazu, dass der Times Square, der größte Verkehrsknotenpunkt von New York City, teilweise in eine Fußgängerzone für die Stadtbewohner umgewandelt wurde. Angefangen mit der Absicht einer kurzfristigen Aktion, kam die Initiative so gut an, dass die Vertreter der Stadt beschlossen, die teilweise Umgestaltung des Times Square dauerhaft zu installieren.

Was auf lokaler Ebene mit einer Handvoll Menschen begann, die ein Parkticket bezahlten, um Stühle und Sitzgelegenheiten aufzustellen, hat sich mittlerweile zu einem internationalen und jährlich organisierten „Park(ing) Day“ entwickelt, der weltweit von vielen Kommunen unterstützt wird. Auch Antje Kapek, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, hat im letzten Jahr daran teilgenommen und unterstreicht die Notwendigkeit dieses Tages: „Es geht schließlich ja um die Frage: In was für einer Stadt wollen wir leben? Wir sehen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger eine sicherere, sauberere und leisere Stadt wünschen, in der genügend Platz ist fürs Flanieren, Spielen und für Grün. Der Parking Day ist dafür ein gutes Beispiel. Er stellt die Frage der Flächengerechtigkeit ganz praktisch: Wie wäre es, wenn ein Nachbarschaftscafé, ein Blumenbeet oder eine öffentliche Lese-Ecke dort entsteht, wo jetzt noch Autos parken?“

An der Basis dieser Form des Aktivismus steht eine Theorie, die unter Stadtplanern als „Taktischer Urbanismus“ (TU) bekannt ist. TU ist ein Ansatz, bei dem eine Gemeinschaft mit nur sehr geringen Kosten ein kleines, temporäres Ereignis im öffentlichen Raum schafft, um eine Veränderung zu provozieren. Diese kann dann zu dauerhaften Lösungen führen und einen Politikwechsel auslösen. Ein solches Ereignis kann sehr spontan oder organisch geschehen, kann aber auch geplant sein und als Teil einer städtischen Strategie eingebunden werden.

Für einen beabsichtigten Politikwechsel ist es wichtig zu verstehen, dass sich die Teilnehmer und Organisatoren oft von den lokalen politischen Entscheidungsträgern unterscheiden. Taktischer Urbanismus hat die Absicht, eine andere und neue Perspektive hinzuzufügen. Dieser Bottom-up-Ansatz kann den Verantwortlichen in der Gemeinde helfen, neue Sichtweisen auf bestehende Regelungen zu entwickeln. Um den Wandel jedoch zu kultivieren und diese kurzfristigen Vorzeigeprojekte in institutionalisierte Maßnahmen und Politiken zu überführen, müssen städtische Beamte ab einem bestimmten Punkt des Prozesses einbezogen werden. Am Beispiel der Neuverteilung von Parkplätzen haben Wissenschaftler der Universität Warschau und der Victoria University of Wellington die notwendigen Schritte für eine erfolgreiche Institutionalisierung analysiert. Als erstes wird ein Projekt durch unabhängig organisierte Aktivistengruppen initiiert, die anschließend der Stadtverwaltung erste Beweise vorlegen müssen, um eine offizielle Genehmigung für die Wiederholung des Projekts zu erhalten. Dies lässt sich als die zweite Stufe der Institutionalisierung darstellen. Mit genügend Dokumentation und Informationen, die zu den politischen Anforderung der führenden politischen Partei im Amt passen, können diese wiederkehrenden Initiativen genug Unterstützung auslösen, um vom Stadtrat finanziert zu werden. Der letzte Schritt zur vollständigen Institutionalisierung wird schließlich erreicht, wenn Stadtbeamte die Aktion selbst organisieren, wie im folgenden neuseeländischen Beispiel: Nach der erfolgreichen Implementierung von kostengünstigen und schnellen Prototypen hat die Verkehrsministerin des Landes, Julie Anne Genter, ihre Städte eingeladen, sich um eine 90-prozentige Förderung für einen temporären Ausbau der Gehwege und Radwege zu bewerben. Das Ziel ist es, Maßnahmen zu unterstützen, die innerhalb von Stunden und Tagen statt Wochen oder Monaten umgesetzt werden können.

Kapek sieht Berlin auf einem ähnlichen Pfad: „In Berlin hat die lebendige Zivilgesellschaft schon viel erreicht und die parlamentarische Arbeit oft bereichert: So haben wir als Berliner Abgeordnetenhaus als Antwort auf den Fahrrad-Volksentscheid zum Beispiel das bundesweit einmalige Mobilitätsgesetz verabschiedet, das dem öffentlichen Nahverkehr und dem Fahrrad- und Fußverkehr erstmals gesetzliche Priorität gegenüber dem Auto einräumt.“

Dennoch, in Deutschland steckt diese Art von städtischem Aktivismus noch in den Kinderschuhen und beginnt, mehr politische und öffentliche Anerkennung zu erhalten. Während Kommunen über zukünftige Änderungen der Straßenverkehrsordnung (StVO) diskutieren, um den öffentlichen Raum für ihre Bürger neu zu ordnen, können die Erkenntnisse des taktischen Urbanismus eine wertvolle Perspektive bieten. Organisationen und Bürger können dieses Werkzeug nutzen, um Ideen einzubringen und die Notwendigkeit zu verdeutlichen, sich aktiv in die politischen Diskussionen einzubringen. Insgesamt ist der taktische Urbanismus eine Möglichkeit, um Prototypen und Ideen für Veränderungen der städtischen Infrastruktur vorzustellen. Sie werden von der breiten Öffentlichkeit vorangetrieben, um dadurch offenzulegen, wie Städte nachhaltiger und lebenswerter werden können.

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  • Beitrag von Timm Bopp 11.2.2021
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