Ab und zu kann es nicht schaden, die Begriffe, die den politischen Raum bevölkern, einer Inspektion zu unterziehen. Und exakt das hat sich Nikolaus Piper, ordoliberaler und langjähriger Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, mit seinem Buch “Wir Untertanen. Wie wir unsere Freiheit aufgeben, ohne es zu merken”, vorgenommen. Der Autor hat in fünf Kapiteln – „Neoliberalismus“, „Meinungsfreiheit“, „Markt“, „Gerechtigkeit“, „Identität“ und „Zukunft“ – und auf 150 Seiten eine geistreiche, analytisch scharfe, elegant geschriebene Geschichte populärer Irrtümer einer Vulgär-Kapitalismuskritik verfasst.

Piper treibt die Frage um, wie es soweit kommen konnte, dass ein insgesamt funktionierendes Prinzip des Wirtschaftens, die Marktwirtschaft, inzwischen so einen schlechten Ruf hat. Eine Antwort: ihre Kritiker von links und rechts konnten mit nicht unerheblichem Erfolg ihre Schlüsselbegriffe umdeuten. Nach der Eroberung der Begriffe erobern sie morgen vielleicht – Stichwort Populismus – die Macht.

Ist „Neoliberal“ plötzlich als Eigenverantwortung zu verstehen?

Begriffsentleerung, Beispiel „Neoliberalismus“ – was sagt es eigentlich über die obsessiven Benutzer dieses Wortes aus, dass sie offensichtlich gar nicht wissen, was er bedeutet? Seine Erfinder, darunter die Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, sahen den „Neoliberalismus“ gerade als Fortentwicklung des reinen Liberalismus – mit einem starken, intervenierenden Staat, der Marktungerechtigkeiten ausgleicht. Als bundesdeutscher Begriff hat sich dafür „soziale Marktwirtschaft“ etabliert. Und die gibt es, entgegen der düsteren Mutmaßungen der „Neoliberalismus“-Kritiker bis heute. Wie wäre es sonst zu erklären, argumentiert Piper, dass die Staatsquote in Deutschland, unabhängig von der jeweiligen Regierung, von 32,9 Prozent (1960) auf 44 Prozent (2017) gestiegen ist? Selbst Gerhard Schröders “Agenda”-Reformen waren auch mit ihren inzwischen korrigierten Konstruktionsfehlern keine “neoliberale” Wende. Es sei denn, man würde als “neoliberal” bezeichnen, dass Menschen grundsätzlich dazu angehalten sind, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen.

Beispiel “Markt”. Piper sieht überhaupt keinen Grund am Marktprinzip zu rütteln, in dem er – Friedrich von Hayek zitierend – eine Art freiheitliche Meinungsbildung über Produkte sieht. Auch nicht angesichts einer Rhetorik, die die “Marktlogik” für alles verantwortlich machen will, von Wohnungsnot, Finanzkrise 2008 bis hin zu Klimawandel. Dieser Fundamentalkritik widerspricht Pieper:

Berlins Mietendeckel zeigt das Grundproblem

Die hohen Mietpreise zum Beispiel sind nur ein Symptom, an denen jetzt – siehe Berliner Mietendeckel – herumgedoktert wird, anstatt sich darauf zu konzentrieren, das Angebot an Wohnungen durch Neubau drastisch zu erhöhen. Auch die Finanzkrise 2008 sei kein Grund dafür, am “Markt” grundsätzlich zu zweifeln. Fast schon im Gegenteil, folgt man Piper: in der Absicht, möglichst vielen Amerikanern Wohneigentum zu verschaffen, hatten amerikanische Politiker Banken verpflichtet, Kredite auch an Arme zu vergeben. Grundlegende ökonomische Regeln wurden missachtet. In der Folge entstanden dubiose Finanzprodukte, die Blase platzte. Längst haben Politik und Wirtschaft aus diesen Fehlern gelernt.

So arbeitet sich Piper in vielen Beispielen und datengesättigt von einem antikapitalistischen Mythos zum nächsten. Dabei hält er die soziale Marktwirtschaft aber gerade nicht für widerspruchsfrei. Er befürwortet auch staatliche Interventionen und zeigt, wo sie sinnvoll und erfolgreich waren. Das liest sich wie ein sozialliberales Manifest. Piper taugt gerade nicht als Abbild eines “Marktradikalen”. Eher erweist er sich als ein geheimer Wiedergänger des nahezu vergessenen Sozialdemokraten Richard Löwenthal.

Dieser hatte, in Rekurs auf die Studentenbewegung 1970 geschrieben, in dieser “lebten alte Affekte einer antiliberalen und antiwestlichen Romantik fort” und die Tendenz, “die moderne Industriegesellschaft (…) radikal zu verwerfen, anstatt die Möglichkeiten ihrer Vermenschlichung zu erforschen”. Man könnte auch sagen: anstatt Mängel des “Systems” zu beheben, wird in vielen Milieus heute in Deutschland wieder die Systemfrage gestellt, mindestens aber mit populistisch angehauchter Kapitalismuskritik hantiert.

Pipers Buch ist eine Aufforderung, sich dem entgegenzustellen. Und sie ist leider sehr notwendig.

Nikolaus Pieper (2019): Wir Untertanen. Wie wir unsere Freiheit aufgeben, ohne es zu merken. (Rowohlt Verlag)