Das Risiko „türkis-blauer Schreckensregierung“ wollten Österreichs Grüne nicht eingehen – erst recht nicht, wenn erstmals die Chance zur Regierungsbeteiligung so greifbar war. Man sei zu „Pionierarbeit“ in der Lage, verkündete Grünen-Chef Werner Kogler stolz auf dem Bundeskongress in Salzburg. 93,18 Prozent seiner Partei stimmten schließlich für das Bündnis mit der ÖVP von Ex-Kanzler Sebastian Kurz, nachdem beide Parteien wochenlang äußerst diskret um eine zukünftige Zusammenarbeit gerungen hatten.

Damit ist Sebastian Kurz wieder einmal etwas gelungen, was ihm nur Wenige zugetraut hätten – ein Regierungsbündnis, dass sich so mancher im bundespolitischen Berlin auch wünscht. Bereits mit den Wahlen hatte sein zukünftiger Vize-Kanzler Kogler Gesprächsbereitschaft mit der ÖVP signalisiert. Voraussetzung: ein Bekenntnis des Gegenübers zu den Themen Korruptionsbekämpfung, Kinderarmut und – natürlich – Klimaschutz.

Absolut einmalig ist insbesondere der Passus „Modus zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl“ auf Seite 200 des „Regierungsprogramms 2020-2040“. Dieser regelt bei einer erneuten Flüchtlingskrise wie 2015 die  Zusammenarbeit der Koalitionäre und ermöglicht der ÖVP zu handeln und gleichzeitig einen Koalitionsbruch zu vermeiden.

Dort heißt es konkret: „Wenn im Rahmen dieses Gesprächs kein Einvernehmen hergestellt werden kann, so ist jener Koalitionspartner, der die Initiative betreibt, berechtigt dieses Gesetzesvorhaben im Nationalrat als Initiativantrag einzubringen. […] Wenn dieser Prozess eingehalten wurde, kann im Rahmen des weiteren parlamentarischen Prozesses dem Gesetzesvorhaben zugestimmt werden, auch wenn es ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten der beiden Koalitionspartner gibt.“

Man habe sich diese Möglichkeit zur Lösung von Krisen und Konflikten geschaffen, erklärte Sebastian Kurz bei der Vorstellung des Regierungspakts. Zudem sei man „optimistisch, dass kein Krisenfall eintreten wird“. Klar ist: dies ermöglicht Kurz auf dem Weg zu strengeren Asylgesetzen sogar die Rückkehr zum frühere Koalitionspartner FPÖ.

Diese Vereinbarung ist in vielerlei Hinsicht so einmalig, dass sich eine Betrachtung lohnt. Sebastian Kurz hat nicht allein einen eigenen Handlungsspielraum bei einer der zentralsten Herausforderungen der EU-Staaten durchgesetzt, sondern eine neue Option für Koalitionsverträge im 21. Jahrhundert geschaffen – eine Art „koalitionsfreien Raum“.

Auf den ersten Blick mag dieser „koalitionsfreie Raum“ als Chance in Zeiten schwieriger Koalitionsbildungen anmuten. Auch in Deutschland könnten in Koalitionsgesprächen massiv strittige Themenbereiche ausgeklammert und so die Regierungsbildung erleichtert werden. Mag dies bei zwei Partnern vielleicht noch funktionieren, so erscheint die Option im Hinblick auf Dreier-Bündnisse kaum möglich. Ein Jamaika-Bündnis wäre wohl auch mit der Option „koalitionsfreier Raum“ im November 2017 nicht mehr zu retten gewesen. Zugleich nutzt das Instrument aber immer nur einer Seite – der Stärkeren.

Die entscheidende Frage ist zudem, was macht das Instrument mit den beteiligten Parteien selbst bzw. lassen sie es überhaupt zu. Bei Österreichs Grünen beklagt die Basis bereits jetzt, dass die Unterschiede zwischen Partei- und Regierungsprogramm zu groß seien. Man habe die Asyl- für die Klimapolitik geopfert, so der Vorwurf von Parteimitgliedern wie politischen Kommentatoren.

Mit dem Thema Migrations- und Asylpolitik wäre dies gerade im Hinblick auf ein zukünftiges Bündnis zwischen CDU/CSU und Grünen in Deutschland wohl unmöglich. Zu diametral stehen die beiden Positionen zu einander – ein Entgegenkommen würde einer Selbstaufgabe gleichen. Gerade die Migrationspolitik ist für die bundesdeutschen Grünen ein zentrales Element der eigenen politischen Identität. In Zeiten, in der Klimaentwicklungen auch als Fluchtursache thematisiert werden, erst recht. „So etwas wird es in Deutschland nicht geben“, erklärte Grünen-Chefin Annalena Baerbock entschieden mit Blick auf die Parteifreunde in der Alpenrepublik.

Vielleicht ist die Option in Deutschland eher für die Länderebene mit ihren regionalen Themen interessant. Für die schwierige Regierungsbildung in Thüringen brachte jetzt der frühere Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU, 2003-2009) genau diese Idee ins Spiel. CDU und Linke sollten sich auf zentrale Vorhaben verständigen, bei strittigen Themen solle es „koalitionsfreie Räume“ geben.

Zumindest Sebastian Kurz hat sich seine nächste Amtszeit in Österreich mit dem „koalitionsfreier Raum“ zunächst gesichert. Ob er ein Vorbild für Deutschland wird, bleibt abzuwarten. Sein sehr unkonkret gehaltener Pakt setzt zudem voraus, dass der absoluten Uneinigkeit beide Partner überhaupt erst einmal zustimmen.