Flüchtlingskrise oder Rentenloch? Impfpflicht oder Pflegenotstand? Täglich entscheiden Journalisten darüber, mit welchen Themen sie ihre Leser, Zuschauer und Zuhörer konfrontieren. Sie wählen aus, gewichten, legen Schlagzeilen und Aufmacher-Meldungen für Nachrichtensendungen fest. Die Höhe des Nachrichtenwertes bemisst sich dabei anhand von drei Kriterien: Ist die Nachricht neu, ist sie interessant, ist sie relevant?
Während sich die Attribute neu und interessant relativ leicht und zum Teil nur subjektiv bestimmen lassen, ist die Frage nach der Relevanz schwieriger zu beantworten: Ist relevant, was viele Menschen betrifft? Oder ist relevant, worüber viele Menschen reden – nicht zuletzt, weil Politik, Verbände und Unternehmen mittels zielgerichteter Kommunikation von bestimmten Themen Reden machen?
Jüngst diskutierten darüber auf der Internetmesse re:publica in Berlin WDR-Moderator Georg Restle, ZDF-Moderatorin Marietta Slomka, Vanessa Vu, Redakteurin bei „Zeit Online“ sowie der Chefredakteur der linksliberalen Wochenzeitung „Falter“ aus Österreich, Florian Klenk. Schnell wurde klar, dass es nicht den Blick nach Amerika, auf den Twitter-Kanal von Donald Trump braucht, um den wachsenden Einfluss politischer Kommunikation auf öffentliche Debatten zu veranschaulichen. Klenk illustrierte ihn am Beispiel der österreichischen Regierung, die im Zuge der Ibiza-Affäre gerade auseinander zu fallen scheint. In der Vergangenheit habe die ÖVP-FPÖ-Koalition die Strategie des so genannten „Message Control“ verfolgt, bei der sämtliche Aussagen der Regierungsmitglieder eng abgestimmt würden, sodass es keine Divergenzen in der Kommunikation gebe. Dabei setzte die Regierung auch Themen, die ob fehlender Betroffenheit der Leser aus Sicht vieler Journalisten zwar nicht unbedingt relevant seien, jedoch trotzdem von vielen Medien aufgegriffen werden – weil die Regierung selbst Relevanz vermittle, indem sie über die sozialen Medien ein großes Echo in der Bevölkerung hervorrufe.
Als etwa im Sommer 2018 mehrere Vereinslokale der türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe in Wien ins Visier des Innenministeriums gerieten, so Klenk, habe die Regierung eine Pressekonferenz einberufen, an der fast das halbe Kabinett teilgenommen habe. „Sie haben so getan, als hätten sie einen Terroranschlag verhindert“, sagte Klenk. Unisono habe die Regierung den ganzen Tag auf Facebook und Twitter erzählt, dass sie „radikalen Moscheen“ geschlossen hätten, fast alle Medien seien aufgesprungen, so Klenk weiter. „In Wirklichkeit war das ein Verwaltungsakt, der den Kellerlokalen lediglich den Namen Moschee entzogen haben, ohne dass irgendwas geschlossen wurde“. Und vor allem: ohne dass sich im Alltag der acht Millionen Österreicher substanziell etwas geändert hätte.
Auch in Deutschland zeichnen sich derlei Tendenzen ab. Viele Bundesministerien verfügen inzwischen über eigene „Newsrooms“, in denen sie semi-journalistische Formaten entwickeln, die sich ohne Umweg über die Medien direkt an die Bevölkerung richten. Auch im öffentlichen Diskurs lassen sich Veränderungen beobachten. Die Themen Asyl und Flüchtlinge haben in den vergangenen Jahren deutlich mehr Raum eingenommen als etwa die Rentenpolitik; über die Impfpflicht wird hitziger diskutiert als über die Lösung des Pflegenotstands. Und das obwohl alle Deutschen eines Tages eine Rente beziehen, möglicherweise zum Pflegefall werden – und nur wenige mit Flüchtlingen und radikalen Impfgegnern in Berührung kommen.
Über die Bewertung dieser Entwicklung und die Folgen für unsere Gesellschaft lässt sich streiten, ebenso über die Rolle von Journalisten, Politik, Wirtschaft und Verbänden. Unabhängig davon jedoch lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten.
- Die Maßstäbe der Relevanz verschieben sich: Die Bedeutung der Betroffenheit nimmt ab, die der Gesprächigkeit zu. Häufig reicht es heute, dass eine größere Zahl von Menschen – allein in den sozialen Medien – über ein Thema spricht, auch wenn der Gegenstand des Themas keine direkten Auswirkungen auf sie hat. Emotionalität ist dabei Trumpf: Den besten Gesprächsstoff bieten polarisierende Themen. Je kontroverser die Positionen, desto hitziger verlaufen Debatten. Dass es sich dabei bisweilen um Scheindebatten handeln mag, um reine Symbolpolitik, ist zweitrangig.
- Der Einfluss der Kommunikation nimmt zu: Gesellschaftliche Akteure, Unternehmen und Politik können diesen Umstand für sich nutzen. Wollen sie die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema lenken, können sie konkrete Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel das gezielte Personalisieren oder Emotionalisieren trockener Sachthemen oder das breite Ausspielen eigener Botschaften in den Kanälen der sozialen Medien.
- Die Verantwortung der Journalisten wächst: In noch größerem Maß als früher müssen Reporter und Redakteure heute das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen. Zwar lässt sich durch Gesprächigkeit hervorgerufene Relevanz nicht ignorieren – reden Leser, Zuhörer und Zuschauer über ein Thema, können sie auch Anspruch auf eine Berichterstattung erheben, wie jüngst bei der ausbleibenden Live-Berichterstattung über den Brand von Notre Dame deutlich wurde. Dennoch müssen Journalisten den ursprünglichen Kern der Relevanz im Blick behalten, die Frage danach, was tatsächlich eine große Masse an Menschen betrifft und was nicht. Denn gerade angesichts der Fülle von Informationen, die das Digital-Zeitalter mit sich bringt, wird die Filter-Funktion der Medien immer wichtiger.